Roman von Susanne Fritz: Von der Privilegierten zur Feindin

Die Schriftstellerin Susanne Fritz gräbt tief im Ungesagten. Ihr Roman „Wie kommt der Krieg ins Kind“ erzählt die Geschichte ihrer Mutter.

Zwei Frauen laufen an einem Eingangstor vorbei

Der Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers Stutthof. Im Außenlager Potulice soll der Großvater der Autorin als Schutzpolizist gearbeitet haben Foto: dpa

Eine Zeitreise zu machen, noch dazu eine in die Vergangenheit der eigenen Familie, ist in Deutschland ein Wagnis. Schnell kann man dabei an finstere Punkte kommen, an dem diese Familie Unvorstellbares gesehen, erlitten oder auch getan hat. Oder alles drei gleichzeitig. Ein entsprechend ernstes Unterfangen auch für Leser*innen ist „Wie kommt der Krieg ins Kind“, das fünfte Buch der Schriftstellerin Susanne Fritz, das nun auf der Longlist für den deutschen Buchpreis steht.

Fritz erzählt darin in vielen aneinandergereihten Miniaturen die Geschichte ihrer Familie, die zur deutschen Minderheit in Polen gehörte und als solche während und kurz nach der Nazizeit zwischen unterschiedlichen Machtverhältnissen hin und her wanderte. Da ist der Großvater, Jerzy beziehungsweise Georg, der einerseits als Bäckermeister engen Kontakt auch zur polnischen Bevölkerung hält, andererseits NSDAP-Mitglied und Schutzpolizist ist. Was genau er getan oder gewusst hat, bleibt unklar.

Sicher ist dagegen: „Von einem freiwilligen Beitritt zur Polizei ging in der Familie niemand aus. Die Worte Schutzpolizist und eingezogen gehören in der Familienüberlieferung zusammen.“ Ein solches Verdrängen hat sich wohl in Tausenden deutschen Familien über die Jahrzehnte verfestigt, insofern ist Fritz’ Buch eines, das seiner Leserschaft einen kleinsten gemeinsamen Nenner bietet, der sehr groß ist: das ewige Suchen und Fragen der Nachfolgegenerationen nach Schuld, Verantwortung und Mitläufertum. Auch Fritz bekommt, wie so viele andere, keine abschließende Antwort.

Viel bemerkenswerter und für die Erzählung auch wichtiger ist allerdings das, was darunterliegt. Ein anderer gemeinsamer Nenner, der im öffentlichen Diskurs erst seit einigen Jahren eine Rolle spielt: die generationsübergreifende Traumatisierung, also die Vererbung der traumatischen Kriegserlebnisse der Elterngeneration an ihre Kinder. So erklärt sich auch der Titel des Buchs, der keine wirkliche Frage stellt, aber auch keine abschließende Aussage darüber wagt, wie sich der Krieg auch in den Kindern fortgeschrieben hat – in diesem Fall also in der Autorin selbst.

Die Mutter schwieg zeitlebens über das Erlebte

Die Tochter Susanne Fritz spricht an der Stelle ihrer Mutter Ingrid Charlotte über das, was diese Mutter erlebt hat, als sie mit 14 Jahren verhaftet wurde und ins polnische Arbeitslager kam. Zum Verhängnis wurden der Mutter damals ebenjene wechselnden Machtverhältnisse, in denen sich die Familie seit Anfang der 30er Jahre bewegte: Sie hatte sich als Mädchen in die „Deutsche Volksliste“ eintragen lassen, was sie dann 1945, mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“, von der Privilegierten zur Feindin machte.

Fritz macht die Geschichte ihrer Mutter als Autorin zu ihrer eigenen. Sie klagt dabei nicht, sondern legt mit sachlicher Genauigkeit Schicht für Schicht frei, was die Mutter damals erlebt hat – mittels Tagebuchaufzeichnungen, Archivrecherchen und Experten. Der Grund für diese späte Aufarbeitung ist wiederum einer, der vielen aus der Nachkriegsgeneration nur allzu bekannt ist: Die Mutter schwieg zeitlebens über das Erlebte, und sie weitete dieses Schweigegebot auch auf ihre Tochter aus. „Die Floskel Heute vor soundso vielen Jahren kündigte den Beginn einer Geschichte an und zugleich ihr Ende.“

Susanne Fritz: „Wie kommt der Krieg ins Kind“. Wallstein, Göttingen 2018, 258 Seiten, 20 Euro.

Nur Fragmente gehörten in den Bereich des Sagbaren, etwa die Erinnerung an das Rasieren einer Glatze in Gefangenschaft. Die junge Susanne verinnerlicht diese Erzählung so sehr, dass sie unversehens in ihr eigenes Leben Einzug findet: „Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine Schulkameraden in Wirklichkeit aussahen, mit kahl rasiertem Schädel saßen sie mit mir im Klassenzimmer, und berauschte mich an meinen gruseligen Phantasien, die ich mit niemandem teilte.“

Der assoziative, bruchstückhafte Erzählstil des Buches ist zuweilen anstrengend. Andererseits: Eine solche Erzählung überhaupt zustande zu bringen, so tief zu graben im jahrzehntelang Ungesagten, kann das in irgendeiner Form auch für die Leserschaft angenehm sein, bleibt es doch stets beim Versuch des Erfassens und Erklärens? Nein. Und doch ist das Buch lesenswert, denn es blickt nach vorn. Und zeigt, wie Erinnerungsarbeit zukünftig funktionieren kann, wenn nur noch Tagebücher und Archive zu befragen sind.

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