Ruandisches Tagebuch Folge 4: Alptraum als Wirklichkeit

Der bisher schwerste Gang unserer Autorin: Ein Besuch in Ruandas zentraler Gedenkstätte in Gisozi 20 Jahre nach dem Völkermord.

Der Eingang zur Gedenkstätte Gisozi. Bild: Marie-Claude Bianco

Mittwoch 9. April. Als ich letzten Oktober in der zentralen Genozid-Gedenkstätte im Stadtteil Gisozi war, hat mir das ziemlich den Boden unter den Füßen weggezogen – und ich habe stundenlang geheult. Mal sehen wie es sich heute anfühlt.

Als ich unter dem Bogen des Eingangstores durchlaufe, merke ich gleich, dass es nicht einfach werden wird. Ich setzte mich auf eine Bank im Schatten. Schon laufen mir die Tränen herunter. Ich lasse es einfach geschehen. Die Leute, die an mir vorbeilaufen, nehme ich kaum wahr. Langsam werde ich etwas ruhiger.

Erst jetzt sehe ich, dass der Vorplatz der Gedenkstätte verändert ist – dort wo im Oktober noch ein Becken mit Springbrunnen und einem Flammenhalter stand, ist jetzt der Boden ebenso gepflastert wie der Rest des Platzes.

Ich gehe um das Museum herum in den Rosengarten. Dort ist es ruhig und angenehmer. Doch die Trauer überkommt mich hier wieder, diesmal mit voller Wucht. Es dauert, bis ich mich wieder fange. Jetzt kann ich zu den Massengräbern gehen, ich möchte zuerst den dort beerdigten 250.000 Menschen die Ehre erweisen.

In der Nacht hat der UN-Sicherheitsrat in New York die Einsetzung der neuen extremistischen Übergangsregierung in Ruanda begrüßt und die Vermittlerrolle der UNO hervorgehoben - eine komplette Fehleinschätzung. Dennoch melden internationale Medien, die Lage sei im Begriff, sich zu entspannen. Die Kämpfe hätten sogar „siginifikant abgenommen“. Man suche jetzt noch die Zustimmung der RPF.

Im Klartext: Wenn jetzt die Tutsi-Guerilla RPF zu den Waffen greift, um Massaker an Tutsi zu stoppen, wird dies international als größeres Problem angesehen werden als die Massaker selbst, die in den internationalen Verlautbarungen keine Rolle spielen.

Im Morgengrauen landen französische Fallschuirmjäger auf dem Flughafen Kigali – 280 Soldaten in vier Transall-Maschinen aus der Zentralafrikanischen Republik. Sie übernehmen die Kontrolle über den Flughafen. Weitere kommen im Laufe des Tages. Mit der vorhandenen UN-Mission sprechen sie sich nicht ab. Auch Einheiten aus den USA und Belgien sollen im Anflug sein, bleiben aber zunächst in Burundi und Kenia in Wartestellung.

Die Franzosen sagen UN-Kommandeur Dallaire, ihre Mission sei die Evakuierung der weißen Ausländer innerhalb von 48 bis 72 Stunden. Von Eingreifen gegen Massaker oder Durchsetzung eines Waffenstillstands oder auch nur Zusammenarbeit mit den UN-Truppen wollen sie nichts wissen, ärgert sich der UN-Kommandeur.

Im Laufe des Tages bricht ein gigantischer Konvoi mit Ausländern aus Kigali Richtung Burundi auf; auch Deutsche sind darunter.

Dallaire bilanziert später: 500 französische Elitesoldaten stehen an diesem Tag in Kigali, dazu 1000 Belgier in Wartestellung in Nairobi und 250 US-Amerikaner in Bujumbura – alle zusammen mit der UNO, entsprechend koordiniert und mandatiert, hätten den Völkermord jetzt noch stoppen können. Die ausländischen Soldaten, die in Kigali ausschwärmen, um Ausländer in Sicherheit zu bringen, werden zwangsläufig Zeugen von Massakern und Greueltaten, sehen unzählige Leichen und blutrünstige Milizen.

Aber die internationale Wahrnehmung ist eine andere: Nach der Ermordung des Präsidenten hat zum Glück in Ruanda eine neue Übergangsregierung die Macht übernommen, der muss man jetzt bei der Stabilisierung der Lage helfen, und die größte Sorge ist, dass die RPF-Rebellen im Norden jetzt den Waffenstillstand brechen und auf Kigali zumarschieren.

An diesem Tag beginnen auch an verschiedenen Orten des Landes die ersten großen systematischen Angriffe radikaler Hutu-Milizen und Militärs auf Ansammlungen von Tutsi, die in Kirchen Schutz gesucht haben. Es ist Wochenende – das erste Wochenende des Massentötens. (D.J.)

Die Grabstätten sind mit Betonplatten abgedeckt und auf drei Ebenen in langen Reihen angelegt. Viele einzelne rote Rosen und große Blumengestecke schmücken sie. Auf den Trauerbändern stehen Sätze wie „Papa, Mama – ihr fehlt“.

Ich laufe die einzelnen Grabreihen entlang. In der zuunterst gelegenen wurde eine der Betonplatten etwas versetzt, das Grab ist offen. Ich schaue auf Reihen bis unter die Decke aufeinander gestapelter Särge.

Ich laufe ziellos über das weitläufige Gelände, vorbei an der „Wand der Namen“, an der eines Tages alle Namen der hier beigesetzten Toten eingraviert sein sollen. Ich lese eine Reihe von Namen, suche auch ein wenig ängstlich nach Bekannten, obwohl ich weiß, dass von unserer Familie hier vermutlich niemand verzeichnet ist. Obwohl noch Tausende fehlen, scheint mir die Auflistung endlos.

Obstbäume zum Gedenken an die Kinder

Für den 20. Jahrestag wurde ein neuer Außenbereich angelegt. Im Mittelpunkt steht eine große Fackel, die Präsident Kagame am 7. April in einer feierlichen Zeremonie entzündet hat. Auf einem riesigen Plakat steht das Motto von Kwibuka20 – „erinnern, vereinen, erneuern“.

Jetzt verstehe ich auch, warum der Springbrunnen mit dem Flammenhalter verschwunden ist. Die „Flamme der Erinnerung“ wurde ja seit Anfang des Jahres von den Kwibuka-TrägerInnen durch sämtliche Provinzen des Landes getragen, um dann hier zum Jahrestag die Fackel der Erinnerung zu entfachen.

Oberhalb dieses Bereichs ist der „Garten der Kinder“ angelegt, ein Garten mit vielen Obstbäumen, denn Kinder symbolisieren die Früchte der Welt.

Ich brauche eine Atempause und setze mich in das Café der Gedenkstätte. Traurig sitze ich vor einer Tasse Tee und starre vor mich hin. „Was habe ich eigentlich anderes erwartet“, frage ich mich selbst. Es ist nicht einfach ein Friedhof - hier liegen Zehntausende Ermordete.

Ich überlege, ob ich mir tatsächlich noch die Ausstellung ansehen soll. Im Oktober hatte ich nur die Hälfte geschafft - die untere Etag,e in der die Geschichte Ruandas vor, während und nach dem Völkermord eindrücklich dokumentiert ist. Die obere Etage hatte ich gemieden. Dort gibt es unter anderem die „Kinderzimmer“ zum Gedenken an die bestialisch ermordeten Kinder. Diesmal habe ich mir eigentlich fest vorgenommen, mir auch diese zweite Etage anzusehen.

Ein Mann nähert sich langsam meinem Tisch, ich erkenne ihn sofort: Yassel, der junge Mann, der mich im Oktober selbstlos getröstet hat. Er freut sich, mich zu sehen, mir geht es ebenso. Ein vertrautes Gesicht, das hilft mir.

Also beschließe ich doch in das Museum zu gehen. Am Eingang steht Serge, der „Head of Guide“. Er kann sich noch an mich erinnern. Freut sich, dass ich wiedergekommen bin. Er sagt, dass er überzeugt davon ist, dass jeder Besuch auch ein winziges Stück Heilung gibt. Ungefragt drückt er mir eine Flasche Wasser und ein Headset in deutscher Sprache in die Hand und wünscht mir viel Kraft.

Bild: marie-claude bianco

Dann geht es voll zur Sache

Ich finde die Ausstellung extrem gut kuratiert. Große Wandbilder, Videos, Erklärtafeln, Fotos ergänzt von einem sehr gutem Audioführer in perfektem Deutsch, über die einzelnen Bereiche verteilt sind Sitzbänke, zum Innehalten, sogar die Beleuchtung ist sehr gut darauf abgestimmt.

Der Rundgang beginnt mit der Zeit vor der Kolonisierung, die Erschaffung der Ethnien durch die rassistische Denke der Deutschen und besonders der Belgier, anschließend die Zeit der Unabhängig und die Entstehung der Hutu-Extremisten.

Und dann geht es voll zur Sache – das Schlachten von 1994 ist eindrücklich in Wort und Bild festgehalten. Ich kenne die Ausstellung ja schon, dennoch ist es sehr krass. Doch Serge hat auch irgendwie recht, es fühlt sich anders als letztes Mal an. Der Rundgang mündet in einem runden Raum, in dem wunderschöne geschnitzte lebensgroße Holzfiguren stehn. Ich berühe das glatte Holz. Es fühlt sich gut an.

Ich weiß aber auch, was nun kommt. Drei besondere Räume gehen von hier ab. Im ersten befinden sich über 2000 Fotos von hier beerdigten Menschen. Männer, Frauen, Kinder - Familienfotos, so intim. Der Völkermord ist mit einem Mal sehr persönlich mit diesen konkreten Gesichtern.

Der zweite Raum ist nicht weniger berührend - mehrere Vitrinen mit Schädeln, andere mit Gebeinen. Im dritten Raum schließlich sind Kleidungsstücke ausgestellt, die in einem der Massengräber in Kigali geborgen wurden.

Mit Beklemmung verlasse ich die untere Etage. Jetzt also hoch in den zweiten Stock.

Bild: marie-claude bianco

Vor der Tür zum Kinderzimmer

Auch hier ein eindrücklicher Rundgang. Zahlreiche Räume klären über weitere Völkermorde des letzten Jahrhunderts auf: an den Armeniern, den Juden, in Kambodscha, auf dem Balkan. Die Bilder, Zahlen und historischen Fakten sind eindrücklich und erschütternd. Und die Botschaft ist eindeutig: Hass und Genozid ist nichts Singuläres. Überall auf der Welt werden Menschen immer wieder geplant und organisiert abgeschlachtet.

Dann stehe ich vor der Tür zu den Kinderzimmern. Ich habe kein Wort für das Gefühl, das mich ergreift. Ich muss an meine eigenen Kinder denken, die jetzt in Berlin ihrem Schulalltag nachgehen. Das Tiefdurchatmen hilft nicht wirklich. Ich gehe dennoch hinein - und muss sofort weinen.

Ein großes Portraitfoto hängt dort. Das lachende Mädchen auf dem Bild durfte nur 12 Jahre alt werden. Auf einer Tafel steht ihr Name, ihr Alter, was sie am liebsten gegessen hat, dass ihre letzten Worte waren: „Mama, wohin soll ich denn weglaufen?“ Und darunter steht, dass sie erschossen wurde.

Und so geht es über mehrere Räume hinweg weiter. Vierjährige und Fünfjährige, die zerhackt wurden. Zweijährige, die an die Wand geschleudert wurden. Ein Geschwisterpaar von 4 und 2 Jahren, die durch eine Granate in ihren Betten zerfetzt wurden. Säuglinge, die totgeschlagen wurden. Ein 10-jähriger, den man zu Tode geqäult hat. Weinend laufe ich durch diesen Alptraum, der Wirklichkeit ist. Diese Kinder sind wirklich alle tot.

Ich muss hier raus und schäme mich beinahe

Ich muss hier raus. Durch einen Hinterausgang gelange ich hinaus, setze mich auf die Treppe und kann garnicht aufhören, zu weinen. Die frische Luft und die Sonne holen mich schließlich ein wenig zu mir zurück. Betäubt gehe ich wieder ins Café, setze mich an abseits an einen Tisch im Schatten und versuche, zu begreifen.

Ich bin so in Gedanken, dass ich nicht bemerke, wie sich eine junge Frau an meinen Tisch setzt. Sie heißt Safi, spricht sie mich an. Ich sehe so traurig aus, deshalb möchte sie mir ihre Gesellschaft anbieten. Ich bin verwirrt, aber auch dankbar. Weiß nicht was ich sagen soll. Dann erzählt sie mir, dass sie selber Überlebende ist. Sie war acht, als sie ihren Mördern entkommen ist. Dabei lächelt sie mir aufmunternd zu.

Bild: marie-claude bianco

Ich bin sprach- und fassungslos, schäme mich beinahe meiner ohnmächtigen Verzweiflung. Ich bin schließlich keine Überlebende wie sie.

Safi gibt mir ihre Telefonnummer. Sobald sie Zeit hat, wollen wir uns treffen.

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