Rundreise in Indonesien: Im Land der geprüften Sanftheit

Albinos, Millionen Diabeteskranke und ein bisschen Matriarchat: eine Rundreise durch das Gastland der Frankfurter Buchmesse.

Muslima machen Selfies beim islamischen Opferfest Eid Al-Adha.

Immer schön lächeln: Muslima posieren beim islamischen Opferfest Eid Al-Adha. Foto: dpa

Jedes Reisen erkundet nicht nur das Andere, sondern unweigerlich auch das Eigene, die mitgebrachten Erwartungen, Missverständnisse, Ängste. In Indonesien bewege ich mich durch Zusammenhänge, von denen ich zunächst nur durch Lektüre weiß; größter muslimischer Staat, postkolonial identitätssuchend, dann das kollektive Trauma „1965“: die Massenmorde an Kommunisten (und vermeintlichen), ein Thema, das erst vor wenigen Jahren enttabuisiert wurde und nun Eingang findet in die Literatur, den Film, die Medien.

Und plötzlich steht man mitten drin, könnte jedes Phänomen – das Lächeln, die Überzuckerung, die Sanftheit – einer Laien-Psychoanalyse unterziehen, und es wird zur asketischen Aufgabe, genau diesen Versuchungen nicht nachzugeben, das konkret Sichtbare nicht mit dem abstrakt Gewussten zu verrechnen, weder dieser naiven Übergriffigkeit zu erliegen noch den verstörend glatten Oberflächen zu vertrauen.

Vor Jakarta wurde ich von Reisenden und Blogs gewarnt – ein Moloch, eine wenig interessante 12-Millionen-Einwohner-Stadt – vielleicht im Wissen, welche Täuschung von seinem Klang ausgehen kann: dunkel, geheimnisvoll, exotisch. Natürlich hat Jakarta alles, was eine Metropole braucht: weite Straßen, Verkehrsstaus, Stahl- und Glastürme, moderne Malls, eine Oberschicht, eine kleine, eher museale Altstadt mit ein paar holländischen Kolonialbauten. Und dann die Armenviertel, etwa beim Hafen, dort empfängt uns am ersten Tag die stets andere Seite der Welt, mit ihr beginnen wir – die Schriftstellerin Antje Rávic Strubel und ich.

Doch später, wenn die Reise weitergeht, werde ich an Jakarta zurückdenken als den vielleicht noch vertrautesten Ort. Selbst ich, die flüchtige Besucherin, habe den Eindruck, hier mehr zu sehen, vielleicht erkenne ich auch schlichtweg mehr wieder, vertraute Problemkonstellationen aus anderen Schwellenländern, Mumbai etwa, dort lebte ich mal.

Kleine Bildungselite

Es ist Nacht, als wir landen, die Luft voller Geräusche, die in der Wärme näher scheinen, sich wie der eigene Puls mit dem Körper verbinden. Das Erstaunen, unsere Namen vorzufinden. Auf einem Schild, das ein schmächtiger Mann hochhält.

Bule! So nennt man hier die hellhäutigen Ausländer

Er kann kein Deutsch, kein Englisch, aber die Anweisungen, die man ihm zusammen mit dem Schild gegeben hat, sind einfach: die zwei deutschen Frauen zum Hotel bringen. Während die Stadt sich hinter der Glasscheibe vor uns ausbreitet wie eine Bestellung, könnte man noch glauben, morgen wieder in Berlin auf die Straße zu treten.

Entfernungsangst ist das Wort, das ich, als ich sie mir Tage später eingestehe, für meine Angst finde oder erfinde, so etwas wie Höhenangst, aber ins Horizontale gedacht, es ist wohl die Angst vor dieser gigantischen Entfernung, 15 Flugstunden, und gebe ich die Strecke Jakarta–Berlin in Googlemaps ein, errechnet man mir 15.000 Kilometer und 245 Fahrstunden „bei geringem Verkehr“. Es ist die Angst, nicht aus eigener Kraft nach Hause zu kommen. Von Indien würde ich es zur Not mit dem Fahrrad nach Hause schaffen, behaupte ich. Das Schweigen des Fahrers wirkt, als wäre auch die Stadt ringsum verstummt.

In den ersten Minuten hakt sich das Wissen in mir fest, dass wir uns bemühen müssen. Selbst wenn die Indonesier, auch das ist sofort klar, ausgesprochen höflich und hilfsbereit sind. Welche Begegnung möchte man, wie stellt man sich Begegnung vor? Das wird nur mit denen möglich sein, die Englisch sprechen. Eine kleine Bildungselite. Die anderen werden mit uns lächeln.

Das Obst ist Kunst

Das Hotel verlängert noch ein bisschen das Gefühl, sich durch vertrauten internationalisierten Raum zu bewegen, an den das Fremde bloß ein bisschen anschlägt wie Dunst an eine Scheibe. Groß, klimatisiert, Dachterrassenpool, elektronische Zimmerkarten. Beim Einchecken müssen wir ungewöhnlich lang warten, der Angestellte starrt mit sorgenvollem Ausdruck auf den Screen und entschuldigt sich schließlich bei uns. Er habe keine zwei Zimmer mehr, die nebeneinander liegen, aber immerhin zwei auf derselben Etage. Wir lachen erleichtert, er lacht sofort mit.

Alleinsein in diesem Land ist eher ungewöhnlich. Später, wenn ich allein reise, wird stets die erste Frage sein, wo meine Familie, meine Freunde seien. Auch die Hände sind hier nicht allein: Alles wird mit zwei Händen überreicht, manchmal mit leichter Verbeugung. Das Wechselgeld, die Ware. Nun die Zimmerkarte. Eine Geste, die die Kostbarkeit und zugleich Verletzlichkeit der Dinge unterstreicht.

Zum Frühstück gibt es eine kleine Käseauswahl (winzige Portionen unter einer Glasglocke wie ein unberührbares Kunstensemble), in den Mittelklasse-Hotels später oft nur noch einen Löffel geriebenen Käse fürs Omelett, geizig vom Eierspeisenkoch herausgerückt, man muss um jeden weiteren Löffel betteln. Statt Brötchen, Käse, Joghurt findet man um acht Uhr morgens große silberne Bottiche vor mit in braunen Soßen schwimmenden Lammrippchen, Hähnchenschenkeln, Garnelen, glänzende Suppen mit Fischköpfen, Nasigoreng mit Spiegelei-Haube, weißen Reisbrei durchsetzt mit ins Unsichtbare püriertem Hühnerfleisch (eine Vegetarier-Falle).

Das Obst ist Kunst. Stundenlang muss sich ein Bildhauer der Wassermelone gewidmet und sie in eine Dämonenmaske verwandelt haben, selbst die herausgeschnittenen Stücke sind ausdrucksstark modelliert wie die Reliefs der Tempelanlage Borobudur. Auf meiner Bewunderungs- und Meckerliste landet noch: Die Tomatensauce für Spaghetti Napoli ist verdünntes, erhitztes Ketchup. Ansonsten kommt an alles die Allzweckwürze Austernsauce, weshalb alles leicht fischig schmeckt. An Fruchtsäfte, an Kaffee, an Joghurt muss Zucker. Nüsse, Kekse, Chips schmecken nach Algen, Fisch und Chili, alles ist frittiert, geröstet, mit Zuckerkrusten, Öl und Aromen angereichert. Kurzum: Nichts ist je einfach nur es selbst.

Sieben Millionen Diabeteskranke

„We want it special“, erklärt mir eine junge Indonesierin lachend in den Regalschluchten des Hypermarkets, wo ich nach etwas Naturbelassenem suche. Es muss doch ein verstecktes Regal für die Gesundheitsspinner geben. Nein, man muss sich an special gewöhnen. Es ist immer special. Indonesien liegt mit seinen über sieben Millionen Diabeteskranken weltweit an siebter Stelle.

Bule! Wir hören es oft. Es heißt Albino, so nennt man hier die hellhäutigen Ausländer. Es wird so deutlich gerufen und so fröhlich, dass ich nicht annehmen möchte, es könne despektierlich gemeint sein (in den Onlinecommunitys der Expats wird darüber gestritten). Die Freude scheint groß; etwas kommt zur Deckung, Wort und Bild. Kinder rufen es, Erwachsene rufen es sich zu. Im Slum, mit Ronny Poluan, steckt das Wort die Schritte ab.

Ronny hat Jakarta Hidden Tours gegründet. Früher war er Schauspieler, Kurator, Filmemacher, was vielleicht auch erklärt, warum das ganze kein schaurig schöner dark tourism wird, sondern eher ein raffiniertes Theaterstück, in das der Besucher schleichend involviert wird, plötzlich nicht nur mit dem Elend des anderen, sondern mit sich selbst konfrontiert: dem Privilegiertsein und der Erwartung (ebenfalls ein Privileg), in Ruhe betrachten und sich seine Gedanken machen zu können.

Man kann sich aber nicht entziehen, weil Ronny mit größter Selbstverständlichkeit als Quatschmach-Onkel und Freund vorangeht. Er scherzt mit den Leuten, er lacht, er verbreitet gute Stimmung, wo er hinkommt. Es ist, als stelle Ronny uns bloß seinen Freunden vor, die dann auch unsere Freunde sind. Hände schütteln, immer wieder. Bule! Vorbeiratternde Züge, Hitze, Gerüche, Woks mit brutzelndem Irgendwas, Körbe getrockneter Fische. Müll unter den Schritten, dicht am Gesicht flatternde Wäsche. Eine verdichtete, verkleinerte Welt. Die Kinder haken sich an uns fest.

Der Slumtourismus

Sie schieben einem ihre weichen Finger in die Hand, üben immer wieder ihre drei Sätze auf Englisch – Wo kommst du her? Wie heißt du? Wie alt bist du? –, ich übe beharrlich mein Touristengesicht, mein Weißengesicht, und spüre, was ich da tue. „Ihr müsst reich sein“, sagt ein Mann. Wir lachen abwehrend. „Nein, ich bin Autorin, ich bin nicht reich“, sage ich. Er sagt nichts, er schaut nur auf die Kamera vor meinem Bauch.

Dann eine Brücke über einem vermüllten Fluss, wo eine Familie campiert, die Übriggebliebenen. Vor Kurzem standen auch hier Hütten, die Bulldozer haben sie plattgemacht. Die Leute wurden in social camps draußen vor der Stadt gebracht. „Eingesperrt zusammen mit psychisch Kranken. Ich gehe dann dort hin, rede mit den Wachen und sie kommen wieder frei.“

Der polemische Begriff Slumtourismus kombiniert Wörter, die nicht zusammenpassen und deshalb provozieren. Tourismus ist eine Industrie, die Profit verspricht, der Slum verspricht Elend. Ronny wurde schon von vielen Journalisten besucht. Er kennt alle Einwände und er zählt sie uns auf. Die meiste Kritik komme aus dem eigenen Land. Er würde das Land in Verruf bringen, wenn er Touristen die Elendsviertel zeige, er würde zudem das Elend kommerziell ausbeuten. Aber Ronny wirkt weder wie jemand, der sich wichtigtun will, noch wie einer, der Reichtum anhäuft.

Am Ende der Tour ziehen uns drei Frauen in einen kleinen dämmrigen Raum, wo wir auf dem Boden Platz nehmen.

„Ich mag deine Nase.“

„Tatsächlich?“, frage ich die Frau zurück.

„Ja. Nicht so kurz wie unsere.“ Ich verstehe. Es geht um die Identifizierung einer langnasigen Weißen, nicht etwa um meine außergewöhnlich schöne Nase. Ob wir Ehemänner hätten? Wir verneinen. „Ihr habt Geld, ihr müsst also nicht heiraten.“ Unsere Rückfrage, ob das Motiv fürs Heiraten nur die wirtschaftliche Verbesserung sei, verstehen sie scheinbar nicht. Ich mache Bilder von Vania. Eine Elfjährige, die sofort in die landesüblichen Kameraposen fällt, die Finger zum Victory-Zeichen und ein MTV-Star-Lächeln. Wie kann ich ihr die Bilder zukommen lassen? Ausdrucken und per Post senden? Oder hat sie vielleicht E-Mail? „Ich bin auf Facebook“, sagt sie.

Autojockeys

Auf dem Rückweg kommen wir an einer Kreuzung vorbei, wo mehrere Jungs am Straßenrand stehen. Einmal hält ein Auto und ein Junge steigt ein. Es sind Jockeys, erfahre ich. Einem Gesetz zufolge muss ein Auto mit mindestens drei Personen belegt sein. Die Jungs lassen sich mieten, bis die Kontrollzone vorbei ist, dann steigen sie aus, laufen zurück und vermieten sich neu. Logik wird mit Logik unterlaufen. Es gibt auch Frauen, die das machen, und sie mieten sich manchmal ein Baby dazu. Dann sind es zwei Fahrgäste, sie verdienen noch mehr.

So uncharmant der Einstieg in ein Land über die Elendsviertel sein mag, ich kann von nun an ahnen, dass das Lächeln und die Sanftheit stets gewaltig geprüft werden von Kräften und Mächten, die für uns Besucher meist unsichtbar bleiben.

Und da sind noch die indonesischen Autoren, die wir in den ersten Tagen treffen und die viel reden. Ein großer Hunger nach Aufmerksamkeit muss hier sein, ein starkes Bedürfnis, die Geschichte des Landes über die Grenzen hinauszutragen. Ich will verstehen, aber weiß wieder nicht, auf welche Weise Verstehen hier funktioniert.

Zwei Wochen später bin ich auf Sumatra. Das Auto frisst sich durch sattes tropisches Grün den Berg hoch. Der Soundtrack zu „Into the Wild“ von Eddie Vedder läuft im Auto. Meine Begleiter, zwei Studenten der englischen Literatur, sind glücklich, als ich sage, dass ich den Film mochte.

Brecht, Jelinek, Herta Müller nennen sie und wollen meine Meinung wissen. Sie schreiben Gedichte. Sie lesen ihre Gedichte laut in den Straßen vor. Sie wollen Dichter werden, sagen sie selbstbewusst und strahlend. Das würde sich bei uns niemand zu sagen trauen. In einer bekannterweise literaturfaulen Nation wie der indonesischen erwarte ich das noch weniger. Die Eltern sind Schriftsteller und Journalisten, der eine Vater ist nebenher Imam. Alle sehr verständnisvoll.

Männer schlafen draußen

Später erfahre ich, dass Positionen vererbt werden. Diese Zuversicht, dass sie ihr Auskommen haben werden, ist also keineswegs naiv. Und sie gehören dem auf Sumatra verbreiteten Minangkabau-Volk an, einer matrilinear geprägten Welt. Das Straßenbild ist anders, hier sitzen die Frauen vor ihren Häusern, wirklich ihren Häusern. Manche haben noch die unglaublich stark gebogenen, sich zu spitzen Türmen aufgipfelnden Dächer. Traditionell muss der Ehemann draußen schlafen, erzählen mir meine beiden Begleiter ehrfurchtsvoll, und dass sie selbst, nachdem sie zwölf waren, nie wieder im Haus der Mutter schliefen. Sie übernachteten in der Moschee.

Ein Dorf, wo ich in der Moscheeschule die Mädchentoilette benutze, mit seltsam schlechtem Gewissen, und draußen stehen zehn Mädchen mit weißen Kopftüchern, lachen und kreischen und treten und schlagen gegen die Tür ihr hello Miss und where are you from, und ich pinkel schnell und schuldbewusst.

Zurück im Auto drehen sie wieder Eddie Vedder auf. And you think you have to want more than you need. Until you have it all, you won’t be free.

„Ich finde die kommunistischen Ideen gut, aber nicht, wie sie im 20. Jahrhundert umgesetzt wurden“, sagt einer der jungen Dichter plötzlich vorsichtig. Ja, ich spüre vor allem seine Vorsicht. „This thing“, nannte in Yogjakarta bei einer Podiumsdiskussion jemand das, was 1965 geschah, der Mord an etwa einer halben Million kommunistischen Indonesiern. Wir im Westen wussten bislang nichts davon. Es sind hauptsächlich Bücher, die mit dem Erzählen angefangen haben, Bücher, die nun zu uns kommen.

Wir passieren ein Ausflugslokal, das ausschließlich Fertigsuppen anbietet, das Fenster ist zugestellt mit bunten Suppenbechern.

Ich denke über Verbindungen nach. Das besänftigende Lächeln, die Überzuckerung, den Schmerz. Vieles mag falsch sein, was ich denke, was sich mir aufdrängt aus meinem angelernten kulturtheoretischen Deutungskosmos. Wichtig ist, dass das Gespräch beginnt. Und das hat es.

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