Russische Avantgarde in Berlin: Ein Jahrzehnt der Utopie

Abheben war erwünscht, Mut zur Abweichung auch. In Berlin erinnert eine Ausstellung an „WChUTEMAS“, ein Labor der Moderne in Moskau.

Ein Entwurf von A.Wesnin zur Fassadengestaltung des WChUTEMAS-Gebäudes am 10. Jahrestag der Oktoberrevolution (Ausschnitt). Bild: Martin-Gropius-Bau Berlin

Eine „Fliegende Stadt“ in den Wolken, ein 56-stöckiges Hochhaus, das als „Denkmal für Ch. Kolumbus in Santo Domingo“ gedacht war, oder auch die „Architektonische Erscheinung eines Gemeinschaftshauses“, das sich in verwickelter Schachtelung wie eine Sichel in den Himmel bäumt. Solch fantastische Visionen einer neuen Architektur konnten ab 1920 nur in Russland erdacht werden.

Das postrevolutionäre Land der Sowjets war auf Utopie gepolt und einer hoffnungsfrohen Zukunft zugewandt. Der gesellschaftliche Umbruch erzeugte eine geradezu überschäumende Fantasie bei Architekten und Architekturschülern. Alles schien möglich, irgendwann, irgendwie – selbst eine Stadt in den Wolken.

Der Ort, wo diese kühnen Visionen eines neuen Bauens entwickelt wurden, hieß WChUTEMAS. Es ist die Kurzformel für „Höhere Künstlerisch-technische Werkstätten“. 1920 durch Dekret der Sowjetregierung in Moskau gegründet, sammelte sich an der Schule so gut wie alles, was in der russischen Avantgarde Rang und Name hatte: El Lissitzky, Naum Gabo, Moissej Ginsburg, Gustav Klucis, Wassily Kandinsky, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko, Wladimir Tatlin oder Alexander Wesnin und andere mehr.

Architekten der Zukunft

„WChUTEMAS. Ein russisches Labor der Moderne“. Martin-Gropius-Bau in Berlin, bis 6. April 2015, Katalog 20 Euro

Die WChUTEMAS gliederten sich in acht Fakultäten. Der Martin-Gropius-Bau in Berlin zeigt nun Einblicke in die Architekturausbildung. Die Entwürfe – vor allem Zeichnungen und einige Modelle – stammen aus dem Staatlichen Schtschussew-Museum für Architektur in Moskau. Hier wurde die Ausstellung entwickelt. Auch der Namensgeber des Museums, Alexej Schtschussew, der Schöpfer des Lenin-Mausoleums, unterrichtete an den WChUTEMAS.

Die Ausrichtung der Schulen war nicht durchweg aufs Avantgardistische oder streng Konstruktivistische festgelegt. Vielmehr gab es permanent Streit, welche Rolle die Kunst in der neuen Gesellschaftsordnung denn nun haben sollte. Die Fronten liefen zwischen den Anhängern der Produktionskunst, die die Totalgestaltung der Umwelt als Aufgabe sahen, und den Vertretern der „reinen“ Kunst.

Zehnmal größer als das Bauhaus

Die WChUTEMAS sind immer wieder mit dem deutschen Bauhaus verglichen worden. Der Vergleich hinkt, aber beiden Schulen gemeinsam ist, dass es einen für alle Studenten gemeinsamen ein- bis zweijährigen Grundkurs gab, bevor es sich zu spezialisieren galt. Anders als beim Bauhaus, waren die WChUTEMAS eine ungleich größere Institution. Mit 2.000 Studenten fing der Unterricht an, in Weimar am Bauhaus waren es 1919 gerade einmal 120. Außerdem fanden die WChUTEMAS in der Sowjetunion bald Nachahmer – etwa in St. Petersburg (Leningrad).

Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau zeigt vor allem Schülerarbeiten. Doch sind diese Materialien aus dem Unterricht – ob abstrakte Übungen zu Farbe und Form, Volumen und Gewicht oder die ausgefeilten Diplomarbeiten – von erstaunlicher Qualität und Eingebungsgabe. Die Arbeiten der Lehrer fallen in ihrer Machart sicher professioneller aus, haben aber nicht die Fantastik der Schüler, die bisweilen Architekturen und Städte entwerfen, die sich um ihre Unbaubarkeit nicht scheren und – etwa bei G. Krutikow – wie Raumschiffe im All schweben.

Zwar entstanden auch an den WChUTEMAS recht traditionelle Entwürfe zu Gartenstädten oder klassizistischen Prunkbauten. Aber den Avantgardisten unter den Lehrern ging es mit Radikalität darum, die Grundlagen des Bauens neu zu entdecken. Dementsprechend hieß ein von Nikolaj Ladowski entwickeltes Propädeutikum an der Architekturfakultät auch schlicht „Raum“.

Sport und Propaganda

Von den Grundlagen bis zu Planungen für konkrete Bauaufgaben durch die Studenten reichte die Spanne der Entwicklung innerhalb der Ausbildung an den WChUTEMAS. Das Paradebeispiel in der Ausstellung ist das Bauprojekt „Internationales Rotes Stadion“ an den Moskauer Sperlingsbergen (später Leninbergen), eines der ambitioniertesten Projekte für Sport, Volksfeste und Propaganda während der 20er Jahre in Russland. Am siegreichen Wettbewerbsentwurf von Nikolaj Ladowski hatten seine Studenten mitgearbeitet.

Ein interessanter Aspekt am Projekt des Roten Stadions ist, wie die Studentenarbeiten bewertet wurden. Exemplarisch zeigen die ausgestellten Unterlagen des Studenten Michail Petrowitsch Korshew, dass sein Entwurf im Kollektiv diskutiert und beurteilt wurde. Das frühere Meister-Schüler-Verhältnis der Akademieausbildung wurde also vom kollektiven Urteil der Lehrer abgelöst. Korshews Entwürfe sind recht geometrisch vom Grundriss her gedacht. Details und Wirkung auf die Massen sind zu wenig bedacht, erfährt man aus den dokumentierten Protokollen der Diskussionen.

Das Stadion wurde schließlich nie gebaut. Der unsichere Baugrund und Geldprobleme stoppten das Projekt. Auch die WChUTEMAS (ab 1927 WChUTEIN, -IN für Institut) wurden 1930 aufgelöst und die Fakultäten auf andere Schulen verteilt. Fortan war der stalinistische Zuckerbäckerstil im Bauen oberste Maxime. Ähnlich wie beim Bauhaus war es die Politik, die den WChUTEMAS den Garaus machte. Die Architekturentwürfe an den WChUTEMAS zeigen jetzt noch einmal, was alles möglich ist, wenn man Architektur sich neu erfinden lässt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.