Russische Politologin über Nemzow-Mord: „Der Hass liegt in der Luft“

Die Staatsmacht hatte es gar nicht nötig, den Befehl zur Ermordung des Putin-Kritikers Boris Nemzow zu geben, sagt die russische Politologin Schewzowa.

Die Beisetzung des ermordeten Boris Nemzow am Dienstag in Moskau. Bild: ap

taz: Frau Schewzowa, wie war Ihre erste Reaktion, als Sie von dem Mord an Boris Nemzow erfahren haben?

Lilija Schewzowa: Ich bin hysterisch geworden. Seitdem nehme ich Beruhigungsmittel. Boris war mein Freund.

Haben Sie Derartiges erwartet?

An solche Dinge denkt in Moskau niemand. Auch Nemzow versuchte, an so etwas nicht zu denken. Aber er hat mehrmals gesagt: Sie können mich umbringen. Das sah auch seine Mutter so, die sagte: Der Kreml wird dich umbringen für das, was du gesagt hast. Nemzow war dauernd in Gefahr. Doch er wollte nie Schutz. Boris war ein Mensch, der keine Angst kannte. Er war nicht verrückt oder leichtsinnig. Doch er hoffte wohl, dass sie so weit nicht gehen würden.

Zum Gedenken an Nemzow sind rund 50.000 Menschen in Moskau auf die Straße gegangen. Wie beurteilen Sie das?

Gott sei Dank, dass es so viele waren. Allerdings hätte ich gedacht, dass es noch mehr sein würden. Denn das Verbrechen war wie ein Spucken ins Gesicht derer, die die Macht nicht mögen. Ein dreister symbolischer ritueller Mord in der Nähe der Kremlmauer, einem Ort, der streng überwacht wird. Ich hätte gedacht, dass die Bevölkerung diese Tat noch stärker als eine persönliche Bedrohung empfinden. Trotzdem: Über 50.000 Menschen in einer Situation der Demoralisierung und Angst ist nicht schlecht. Und es waren auch viele junge Leute da.

Ist Russland nach diesem Mord ein anderes Land geworden?

Ich glaube nicht, dass sich ein Land in einer Minute so verändert. Aber dieses hier ist der bedeutendste politische Mord seit 25 Jahren. Das ist der Abschluss eines Kapitels und der Beginn eines neuen. Das heißt, der russische Staat und diejenigen, die ihm dienen, schrecken auch nicht davor zurück, Blut zu vergießen. Wohin die Entwicklung unter Putin geht, wissen wir nicht. Doch die Machthaber haben die Gesellschaft in einem Geist des gegenseitigen Hasses erzogen. Die Staatsmacht hatte es gar nicht nötig, den Befehl zu geben, Nemzow zu ermorden. Denn der Hass liegt schon in der Luft. Dieser Bazillus des Hasses, der Grausamkeit und Feindseligkeit hat sich in der Mentalität der Menschen eingenistet. Selbst wenn der Kreml diesen Bazillus jetzt aufhalten wollte, wäre das sehr schwierig.

ist russische Politikwissenschaftlerin. Sie forscht unter anderem über das Ende des Kommunismus und die russische Innen- und Außenpolitik. Gemeinsam mit Andrew Wood verfasste sie 2011: „Change or Decay: Russias Dilemma and the Wests Response“ (Carnegie).

Was bedeutet der Mord an Nemzow für die russische Opposition?

Das ist ein sehr schwerer Schlag und schwächt die Opposition enorm. Boris war einer der besten Organisatoren von Demonstrationen. Er kümmerte sich um die Finanzierung der Opposition. Er war ihre Seele.

Könnte dieser Mord zum Ausgangspunkt für eine neue Protestbewegung werden?

Ich würde Ihnen so gerne sagen, dass der Tod von Boris Nemzow nicht umsonst war und zum Fanal für die Bildung einer neuen Protestbewegung wird. Doch damit wirklich eine neue Opposition, eine Alternative zum Kreml entsteht, braucht es eine noch ernstere Krise, die das Leben der Menschen unerträglich macht.

Was heißt das genau?

Steigende Preise für Energie, Korruption, Hass auf die Staatsmacht. Das ist eine Krise. Und genau die wird eine neue Opposition hervorbringen. Nur die Unmöglichkeit, unter solchen Bedingungen weiterzuleben, treibt die Menschen auf die Straße und bringt sie dazu, nach neuen Ideen, Führungspersönlichkeiten und Plattformen zu suchen. Das kann in einem, zwei, drei oder in fünf Jahren der Fall sein, ist aber unausweichlich. Denn das System ist nicht lebensfähig, es stirbt qualvoll. Die Krise wird kommen. Das Problem ist nur, ob wir darauf vorbereitet sein werden.

Wäre ein Putsch gegen Putin aus seiner engeren Umgebung für Sie ein denkbares Szenario?

Ein Umsturz war in Russland immer eine Form des Machtwechsels. Das gilt auch für die Oktoberrevolution von 1917, wo eine Protestbewegung, die auf der Straße begonnen hatte, in einen Umsturz mündete. Deshalb ist nicht ausgeschlossen, dass sich dieses Szenario wiederholt. Ein Wechsel des Regimes, Putins sowie seiner Mannschaft zugunsten eines Gleichgesinnten, um die Existenz des autokratischen Systems zu verlängern. Das ist die wahrscheinlichste Variante, wenn keine Alternative auftaucht. Eine Alternative in Form neuer Menschen, so wie Nemzow einer war. Doch abgesehen davon: Die Agonie des Systems hat begonnen. Aber sie kann lange dauern.

Sie halten sich mit Kritik an Putins Systems ebenfalls nicht zurück. Haben Sie manchmal Angst?

Angst würde mir mein Leben unerträglich machen. Jeder dieser Vorfälle, wie mit Boris, ruft bei mir heftige emotionale Reaktionen hervor. Aber ich bin doch keine Politikerin, sondern nur ein kleiner Fisch. Die Politiker sind diejenigen an der Frontlinie, wir tragen ihnen nur die Patronen hin.

Immer härtere Repressionen gegen Andersdenkende in Russland, der Krieg in der Ukraine – reagiert der Westen adäquat auf diese Situation?

Natürlich nicht. Der Westen wurde kalt erwischt, er war bis vor Kurzem wie gelähmt. Was er tun sollte? Er sollte zu der Schlussfolgerung kommen, dass allein Sanktionen das Problem nicht lösen werden. Minsk II, das Abkommen, das Russland die Möglichkeit gibt, außer der Krim auch noch woanders über den Staatsaufbau in der Ukraine mitzubestimmen, ist ebenfalls keine Lösung. Europa wird nach weiteren Mitteln suchen, um Russland aufzuhalten – Sanktionen sind nur eins davon. Und der Westen muss sich gleichzeitig in Geduld üben und darauf warten, dass sich die Russen selbst aus dieser dunklen Grube befreien.

Sollte der Westen die russische Zivilgesellschaft stärker unterstützen?

Ich glaube nicht, dass der Westen die Zivilgesellschaft in Russland noch stärker unterstützen kann, als er das jetzt schon tut. Da sind die Möglichkeiten begrenzt. Die russische Gesellschaft lässt eine direkte Finanzierung russischer Organisationen nicht zu. Wir benötigen die Hilfe des Westens nicht im Inneren, sondern von außen. Dass der Westen sich selbst hilft und das Problem der fünften Kolonne löst. Ich meine Leute, die für dreckiges russisches, ukrainisches oder kasachisches Geld arbeiten – Autoren, Journalisten und Geschäftsleute. Es geht um eine westliche Reinigung, nach dem Motto: Reinigt euch selbst, helft euch selbst, und so helft ihr uns!

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