SPD-Politiker Lauterbach verteidigt Agenda 2010: "Die Hartz-Reformen sind links"

Ohne die Agenda 2010, betont der SPD-Linke Lauterbach, stünde Deutschland vor einer Arbeitsmarkt-Katastrophe mit einer Million mehr Arbeitslosen.

"Arbeit ist nicht würdelos, nur weil sie schlecht bezahlt ist": Karl Lauterbach Bild: dpa

taz: Herr Lauterbach, es gibt derzeit gut drei Millionen Arbeitslose, so wenig wie lange nicht. Warum?

Karl Lauterbach: Das ist in erster Linie ein Ergebnis der Arbeitsmarktreformen, die seit 2005 in Kraft sind.

Woher wissen Sie, dass dies an der Agenda-Politik liegt - und nicht am Wirtschaftsboom?

Seit 2005 haben fast eine halbe Million Langzeitsarbeitslose Jobs bekommen. Das zeigen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Langzeitarbeitslose sind besonders schwer vermittelbar. Dass so viele von ihnen Jobs gefunden haben, hat direkt mit dem Ausbau des Niedriglohnsektors zu tun.

Mehr Jobs gibt es in jedem Boom. Wo sind die besonderen Effekte der Hartz-Gesetze?

In den letzten 30 Jahren gab es nach jeder Konjunkturphase eine halbe Millionen Arbeitslose mehr. Diesmal gibt es, verglichen mit der letzten Konjunkturphase 2001, eine halbe Million weniger. Das macht netto eine Million Arbeitslose weniger. Das zeigt: Die gesunkene Arbeitslosigkeit ist neben dem Aufschwung ein Erfolg der rot-grünen Arbeitsmarktreformen.

Dann hat die SPD wohl alles richtig gemacht?

Nein. Dass die Reformen wirken, weiß man eigentlich erst seit wenigen Monaten. Die SPD hat die Reformen schon verteidigt, als man noch gar nicht wusste, dass die Zahl der Langzeitarbeitlosen sinkt. Das war politisch verständlich, aber für die Glaubwürdigkeit verhängnisvoll.

Und wie haben die Hartz-Gesetze diese Jobvermehrung bewirkt? Durch erhöhten Druck auf Arbeitslose?

Zum Teil - ja. Es gibt Arbeitslose, die erstens heute weit schlechter bezahlte Jobs annehmen. Zweitens: Weil die Aufstockung möglich ist, arbeiten viele Hartz IV Empfänger nebenher. So sind Niedriglohnjobs entstanden, die es vorher nicht gab. Es gibt also mehr Leute, die überhaupt Arbeit wollen und es gibt mehr niedrig bezahlte Jobs. Das zusammen hat, drittens, dazu geführt, dass die Löhne im unteren Bereich gesunken sind. Das wiederum hat dazu beigetragen, dass dort noch mehr Jobs entstanden sind.

Aber empirische Beweise, dass Arbeitslose angesichts von Sanktionen Jobs annehmen, fehlen...

Wer Vermögen und Einkommen verliert, ist eher geneigt, auch schlecht bezahlte Arbeit anzunehmen. Wenn dies anders wäre: Bitte, warum gab es denn so viel Protest gegen die Hartz-Reformen? Sie können schlecht behaupten, dass die Arbeitsmarktgesetze nicht wirken, der Protest gegen sie aber berechtigt ist. Das ist doch widersprüchlich.

Wenn es nicht genug Arbeit gibt, ist es bizarr, Arbeitslose unter Druck zu setzen...

Aber diese Arbeitsplätze gibt es doch. Wir haben 40, 4 Millionen Erwerbstätige, so viele wie noch nie. Und warum? Unter anderem, weil mehr Leute bereit sind, für weniger Lohn zu arbeiten. Deshalb sind Jobs entstanden, die es vorher nicht gab. Und - das darf man nicht verschweigen - es sind auch Stundenlöhne um die 10, 12 Euro gesunken, die in den Sog dieser Niedriglöhne gekommen sind. Das ist eine Nebenwirkung dieser Reformen.

Nur eine Nebenwirkung? Die Löhne sind im Niedriglohnsektor um zehn Prozent gesunken.

Ich will nichts beschönigen. Ich bestreite nicht, dass es wichtig ist, das Lohnniveau zu halten. Aber Arbeit zu schaffen, ist noch wichtiger. Denn was nützen dem, der keine Arbeit hat, hohe Löhne?

Klingt wie: Jede Arbeit ist besser als keine.

Nein. Ausbeutung dürfen wir nicht akzeptieren. Deshalb bin ich für einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn.

Sie loben, dass die Arbeitsmarktreform Jobs im Niedriglohnsektor geschaffen hat - aber ein Mindestlohn vernichtet doch genau diese Dumping-Lohn- Jobs wieder?

Nein, die Beispiele Schweden und USA zeigen, dass solche Arbeitmarktreformen und Mindestlöhne zusammen wirksam sind. Es kommt darauf an, wie hoch der Mindestlohn ist.

Wie hoch sollte er denn ihrer Meinung nach sein?

7, 50 Euro wäre für Deutschland ideal. Es muss attraktiver sein zu arbeiten, als nicht zu arbeiten. Aber auch krasse Ausbeutung und Hungerlöhne durch Unternehmer, etwa bei Aufstockern, werden so verhindert. Der Mindestlohn dämpft die Lohnsenkungen im Niedriglohnbereich durch die Hartz Gesetze, ohne die neuen Jobs zu zerstören.

Herr Lauterbach, ist denn wirklich jeder Niedriglohn-Job besser als Arbeitslosigkeit?

Nein, es gibt Arbeitsplätze, die krank machen, es gibt Arbeit, die sinnlos ist. Aber Arbeit ist nicht würdelos, nur weil sie schlecht bezahlt ist. Wenn jemand fünf Euro verdient und Kinder gegen Krankheiten impft, ist diese Arbeit dann würdelos? Ich finde nicht. Umgekehrt: Bei der Frage, was Arbeitslosigkeit bedeutet, werden die negativen Folgen meist unterschätzt. Arbeitslose sterben früher, sind doppelt so häufig chronisch krank und bringen sich viel öfter um. Diese Befunde gelten sogar für Staaten mit engem sozialen Netz wie Schweden. In den USA und Großbritannien ist es noch schlimmer. Deshalb wollen die meisten Arbeitslosen unbedingt arbeiten.

Und deswegen ist der Druck auf Arbeitslose durch Hartz IV ja überflüssig, oder?

Der Druck ist, wie gesagt, nur ein Mechanismus von dreien - und der am wenigstens ausschlaggebende für die Wirkung der Hartz-Reformen.

Ihr Fazit der Agenda lautet also: Profiteure sind eine Million Arbeitslose, die bekommen Jobs haben. Dafür bekommen aber Millionen weniger Lohn und das Gros der Hartz IV-Empfänger weniger Transfersleistungen.

Ja, ich glaube, mit dem Sozialphilosophen John Rawls, dass sich der Wert von Politik daran bemisst, was sie für die erreicht, denen es am schlechtesten geht. Das sind, neben chronisch Kranken, die Langzeitarbeitslosen. Insofern sind die Hartz-Reformen linke Reformen.

Die Bilanz sieht schlechter aus, wenn man die Zahl der Hartz IV Empfänger berücksichtigt. 2005 waren es 6,6 Millionen, jetzt sind es 6, 7 Millionen.

Das sind zwei paar Schuhe. Wie viele Hartz IV Empfänger es gibt, ist für die Bewertung der Arbeitmarkreformen völlig unerheblich. Wer Hartz IV bekommt , muss ja nicht arbeitslos sein. Wichtig scheint mir, dass und wie die Arbeitslosigkeit sinkt: von Mitte 2007 bis Mitte 2008 ist sie um 14 Prozent zurückgegangen, bei Langzeitarbeitslosen sogar um 21 Prozent.

Zu Ihrer Erfolgsbilanz passt auch nicht, dass die sozialversicherungspflichtigen Jobs abgenommen haben. Es gibt heute 400000 weniger als vor acht Jahren.

Moment, es gibt heute 1, 3 Millionen sozialversicherungspflichtige Jobs mehr als 2005. Und erst seitdem 2005 gelten ja die Arbeitsmarktreformen. Und die meisten Langzeitarbeitlosen, die vermittelt wurden, haben sozialversicherungspflichtige Jobs. Das halte ich für einen großen Erfolg, weil dies auch die Finanzierung der Sozialsysteme stabilisiert. Und mehr Teilzeitjobs gibt es in allen Industrieländern. Das ist doch kein Ergebnis der Reformpolitik.

Jetzt kommt der Abschwung. Woher wissen Sie, dass am Ende nicht bloß viel prekäre Beschäftigung und hohe Arbeitslosigkeit übrig bleiben?

Ich kenne diese These: Die Arbeitslosen werden wieder arbeitslos, die niedrigen Löhne bleiben. Doch das ist ökomomisch unwahrscheinlich. Denn vom Abschwung betroffen, ist vor allem die Exportindustrie, etwa die Autoindustrie, wo es kaum Niedriglöhne gibt. Ohne diese Reformen würden wir mit einer Millionen Arbeitslosen mehr in den Abschwung gehen. Ohne diese Reformen ständen wir vor einer arbeitsmarktpolitischen Katastrophe.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN UND STEFAN REINECKE

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