SPD-Politiker über Hartz IV: „Es ist falsch, am Minimum zu kürzen“

Die Sanktionen bei Hartz IV sollten abgeschafft und das Arbeitslosengeld I auf vier Jahre verlängert werden. Das fordert NRWs SPD-Chef Sebastian Hartmann.

Demonstranten stehen während der mündlichen Verhandlung über die Rechtmäßigkeit von Hartz-IV-Sanktionen vor dem Bundesverfassungsgericht

„Wir sollten über die 35-Stunden-Woche und die Vier-Tage-Woche sprechen“, sagt Hartmann Foto: dpa

taz: Herr Hartmann, war die Einführung von Hartz IV falsch?

Sebastian Hartmann: Es war gut, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zusammenzulegen und den Frühverrentungswahn in Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit zu stoppen. Hartz IV ist aber zu einem Symbol für Abstiegsängste geworden. Unabhängig davon, wie lange man gearbeitet und eingezahlt hat, man war nach kurzer Zeit im Arbeitslosengeld II. Klares Wort aus der Sicht von heute: Es war ein Fehler. Die SPD wäre damals gut beraten gewesen, den Kompromiss mit Union und FDP im Bundesrat abzulehnen. Denn der hat unnötige Verschärfungen gebracht.

Manche Sozialdemokraten sagen: 2003, als die Arbeitslosigkeit hoch war, war Hartz IV nötig, jetzt bei Arbeitskräftemangel ist es schädlich.

Ich glaube, der Vergleich taugt nicht. Arbeitslosigkeit ist kein individuelles Versagen, sondern ein gesellschaftliches und oft strukturelles Problem, das nicht nur mit „Fördern und fordern“ beantwortet werden kann.

„Fördern und fordern“ gehört auch den Müllhaufen?

Natürlich gibt es eine Eigenverantwortung der Einzelnen. Aber man kann nicht verlangen, was nicht erfüllbar ist. In Münster gibt es vier Prozent Arbeitslose, in Gelsenkirchen über elf. Das liegt nicht daran, dass die Leute in Gelsenkirchen nicht arbeiten wollen. Es macht keinen Sinn, Druck auszuüben, wenn durch regionale Unterschiede Arbeit und Arbeitsplätze ungleich verteilt sind.

Sollen Sanktionen, wie Kürzungen beim ALG II, für Hartz-IV-Empfänger wegfallen?

Das ALG II ist das Existenzminimum. Es ist falsch, da zu kürzen.

Arbeitsminister Hubertus Heil sieht das anders. Er will Sanktionen für Jüngere entschärfen, aber prinzipiell an den Sanktionen festhalten. Parteichefin Andrea Nahles sagt: „Die SPD steht nicht für bezahltes Nichtstun.“ Was ist denn die SPD-Position?

Was hat Sanktionsfreiheit bei Hartz IV mit dem Tempolimit zu tun? In beiden Fällen ist Gerhard Schröder vehement dagegen. Die SPD dürfe „nicht linker als die Linken sein wollen und nicht grüner als die Grünen“, verkündet der Altkanzler und frühere SPD-Vorsitzende im aktuellen Spiegel. „Wenn ich höre, was da bei uns alles diskutiert wird, von der Abschaffung aller Sanktionen bei Hartz IV bis zum bedingungslosen Grundeinkommen, dann müssen wir aufpassen“, warnte er. Unbezahlbare Forderungen im Sozialbereich könne „die Linkspartei aufstellen, aber die SPD doch nicht“.

Ökologie ist auch nicht so sein Ding. „Im Hambacher Forst vorne mitzulaufen war ein Fehler“, sagte Schröder. Warum er gegen ein Tempolimit ist? „Na, weil die Autos hierzulande so ausgelegt sind, dass man sie schnell fahren kann.“

Und was stört ihn sonst noch? Dass seine Genossinnen & Genossen heutzutage nicht mehr so ordentlich angezogen sind: „Übrigens kann Schlampigkeit auch im Kleidungsstil außerordentlich kontraproduktiv sein, insbesondere bei SPD-Wählern“, weist Schröder sie zurecht. „Gerade unsere Leute erwarten, dass wir vernünftig auftreten.“ (pab)

Ich kann Ihnen meine Position darlegen: Es gibt eine Mitwirkungspflicht von Arbeitslosen. Aber das Existenzminimum darf nicht kürzbar sein.

Auch der Grüne Robert Habeck fordert: Die Sanktionen bei Hartz IV müssen weg. Wo ist der Unterschied?

Ich bin, anders als manche Grüne, gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Denn das hätte den Effekt, dass sich der Staat nicht mehr um Abgehängte kümmern braucht. Die SPD will das Gegenteil – nämlich, dass Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können und dass Aufstieg durch Arbeit gelingt. Bei Robert Habeck fehlt auch die Frage nach der Verteilung von Arbeit. Die ist aber gerade im digitalen Wandel zentral. Wir sollten vielmehr über die Ideen der IG Metall sprechen, wie etwa die 35-Stunden-Woche und die Vier-Tage-Woche. Ich bin auch dafür, das Arbeitslosengeld I länger zu zahlen – bis zu vier Jahren bei Älteren. Das bekämpft Abstiegsängste ganz praktisch. Gerade weil sich die digitale Arbeitswelt rasch wandelt, müssen wir Druck rausnehmen. Auch durch frühzeitige Weiterbildung und Qualifizierung von Beschäftigten in Branchen, die besonders von Veränderungen betroffen sind.

Die SPD überschlägt sich seit Monaten mit Erklärungen, dass das Hartz-System verändert werden soll …

… abgeschafft, nicht verändert …

… und wie genau? Die Abschaffung der Sanktionen scheint bei der SPD-Spitze eher nicht mehrheitsfähig zu sein. Über den Regelsatz redet kaum jemand. Wohlfahrtsverbände fordern, dass der auf mindestens 580 Euro steigen soll. Sie auch?

Sebastian Hartmann (41) ist seit April 2018 Landesvorsitzender der SPD in Nordrhein- Westfalen. Er ist bei Bonn groß geworden und seit sechs Jahren im Bundestag.

Egal, was ich jetzt sage, es wird sich immer ein Linken-Politiker finden, der noch zehn Euro mehr fordert. Wir brauchen eine soziale Mindestsicherung, ergänzt durch die Ermöglichung soziokultureller Teilhabe. Hartz IV orientiert sich an den Lebenshaltungskosten. Ich hingegen halte es für richtig, die soziale Mindestsicherung an die Lohnentwicklung zu koppeln. Denn nur so verhindern wir, dass mehr relative Armut entsteht.

Die SPD will einen Mindestlohn von 12 Euro. Das klingt erst mal gut. Aber wie? Wird die Kommission, die den Mindestlohn festsetzt, entmachtet?

Erst einmal: Der Mindestlohn ist unglaublich erfolgreich. Es sind nicht, wie manche warnten, Millionen Jobs verloren gegangen. Im Gegenteil: Millionen Beschäftigte bekommen mehr Geld. Bei der Einführung hat der Gesetzgeber 8,50 festgesetzt. Das kann man mit der Erhöhung auf zwölf Euro genauso machen. Danach wäre wieder die Kommission für die Höhe zuständig. Ein höherer Mindestlohn würde auch das Aufstocker-Problem entschärfen. Der Staat subventioniert ja massiv Unternehmen, die extrem niedrige Löhne zahlen. Es gibt Supermarktketten, bei denen ein Viertel der Arbeitenden nur als Aufstocker über die Runden kommen. Das hat mit Würde der Arbeit nichts zu tun.

Im Ost-Papier des SPD-Parteivorstands steht: zwölf Euro Mindestlohn, aber per­spektivisch. Also erst mal nicht. Ist zwölf Euro also doch nicht ernst gemeint – mehr so ein Wunsch?

Ich verwende perspektivisch in diesem Zusammenhang nicht. Zwölf Euro sind das untere Minimum in Ost und West.

Also ist „perspektivisch“ falsch?

Ich vergebe keine Haltungsnoten.

Ein Verdacht lautet: Die SPD ist plötzlich gegen Hartz IV, weil die Umfragen so mies sind. Ist dieser Eindruck ganz falsch?

Ja. Ich habe schon im Herbst 2017 gefordert, dass sich die SPD verbindlich mit der Agenda 2010 beschäftigt und einen neuen Entwurf für einen starken, solidarischen Sozialstaat entwickelt. Ungleichheit ist der Sprengstoff unserer Zeit. Es muss der SPD gelingen, das in den Mittelpunkt der Debatte zu rücken.

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