SPD im Wahlkampf: Ran an den Osten

Auf seiner Länderreise buhlt Kanzlerkandidat Peer Steinbrück um die Stimmen der Ostdeutschen. Wie kommt der Hanseat im Osten an?

Auftritt in Dresden: Peer Steinbrück tourt durch Ostdeutschland Bild: dpa

ROTTMERSLEBEN/MAGDEBURG taz | „Wer ist der Mann?“, fragt der Junge. „Na, sag mal“, stutzt ihn die Mutter zurecht, „du gehst doch zur Schule, lernt ihr da nichts? Das ist doch der Peer Steinbrück!“ Der etwa Zehnjährige macht nicht den Eindruck, als sage ihm der Name etwas. Aber klar ist, dieser bullige Typ im nachtblauen Anzug muss wichtig sein. Sonst wären nicht alle aus dem Dorf zum Feuerwehrhaus gekommen, um ihn zu begrüßen.

Der SPD-Kanzlerkandidat ist heute im Mensch-zu-Mensch-Modus. Es ist Länderreise-Tag. Das heißt, er trifft auf die Bürgerinnen und Bürger, und abends stellt er sich in die nächstgrößere Stadthalle und redet „Klartext“. Heute macht er Station in Rottmersleben, Sachsen-Anhalt. Abends warten dann 400 Genossen in Magdeburg auf ihn. Seit Wochen geht das so.

Und man kann sagen: Diese Tour war nach dem komplett verstolperten Start des Kandidaten eine der besseren Ideen aus Steinbrücks Wahlkampfteam. Auf Länderreise lernen die Leute ihn kennen und er die Leute. Hier, in Ostdeutschland, hat er in dieser Hinsicht einiges zu tun. Habituell, biografisch ohnehin, ist Steinbrück Wessi.

Die Reise: Seit Ende Februar reist Peer Steinbrück durch deutsche Lande. Der SPD-Kanzlerkandidat trifft Bürger, manchmal besichtigt er Unternehmen. Höhepunkt eines Länderreise-Tags ist stets die "Klartext"-Veranstaltung. Ähnlich wie bei den US-amerikanischen Townhall-Gesprächen steht der Kandidat Rede und Antwort. Sachsen-Anhalt war eine der letzten Stationen Steinbrücks. Heute besucht er noch Bremen, um 19.30 Uhr im Hotel Maritim.

Die Ost-Länder: In ganz Ostdeutschland hat die SPD nur knapp 22.000 Mitglieder, das sind knapp 5 Prozent der 477.000 Genossen. Die SPD regiert dort in zwei Bundesländern: in Brandenburg mit der Linkspartei und in Mecklenburg-Vorpommern mit der CDU. In Sachsen-Anhalt und Thüringen ist die SPD kleiner Koalitionspartner der CDU. Nur in Sachsen hat sie keine Regierungsverantwortung.

Ein Hanseat im feinen Zwirn, der keinem die Hand gibt und dem das Genossen-Du nicht leicht über die Lippen kommt. Ein Bonner Ministerialbeamter, der die Leute mit intelligenten Drechselsätzen verschreckt, in die er wo immer möglich Fremdwörter einstreut. Volksnah geht wirklich anders.

Spanferkel und Freibier

Aber er will sie überzeugen. Er braucht die Stimmen aus dem Osten. Er braucht wirklich jede Stimme, die er kriegen kann, um am 22. September mit seiner SPD gegen die Kanzlerin anstinken zu können. Diese Blazer-Frau aus Templin in Brandenburg, die ihren Herausforderer kühl ignoriert, die Konflikte und Angriffe sphinxartig aussitzt. Und die aktuell trotzdem 60 Prozent der Wähler gern noch einmal vier Jahre ins Kanzleramt schicken würden. Gegen so viel Popularität hilft nur die Ochsentour, also: Ran an die Ossis.

In Rottmersleben schiebt sich die Gruppe der Dörfler nun hinüber zum Gemeindehaus. Eine Kaffeetafel ist vorbereitet, danach warten Spanferkel und Freibier. Es ist 16 Uhr, Steinbrück schaut müde. Morgens noch war er in Berlin beim Treffen mit dem chinesischen Ministerpräsidenten, vormittags dann Parteivorstand und mittags Präsentation drei neuer Kandidaten für sein Kompetenzteam. Und jetzt das Kontrastprogramm: Rottmersleben, ein Dorf kurz vor Helmstedt, gelegen in der Börde-Landschaft zwischen Rapsfeldern und Windrädern.

Thema heute: der demografische Wandel. So nennt man höflich die Entvölkerung des Ostens. Sachsen-Anhalt, das derzeit von einer großen Koalition regiert wird, hat seit der Wende eine halbe Million Einwohner verloren.

Bevölkerungsschwund

Waltraud Wolff, die SPD-Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises Börde-Jerichower Land, nennt die Fakten. Nur noch 180.000 Einwohner hat ihr Landkreis, viele Alte, wenige Kinder. Trotzdem soll alles vorhanden sein: Arzt, Kita, Schulbus, Kultur. Für das hoch verschuldete Sachsen-Anhalt eine kaum zu stemmende Aufgabe. „Wenn tagsüber nur noch zwei Leute im Dorf sind und die anderen arbeiten“, flachst Wolff, „kann man eigentlich nur sagen: Kontrolliert abbrennen.“

Steinbrück fragt nach. Wie lange hat die Kita auf? Fährt ein Schulbus? Wie hoch sind die Hektarpreise? Er hört zu, schaut auf seine leere Kaffeetasse. Lässt sich nicht vom Ortsbürgermeister drängen, der fürchtet, dass das Spanferkel kalt wird. „Lass mal, ich höre zu.“ Seine Frau, sagt Steinbrück dann, sei ja hier aus der Gegend. Aus Hohenberg-Krusemark bei Stendal. Nach der Wende habe ihre Familie Land rückübertragen bekommen und verpachtet. Ja, doch, „das hat der Pächter ganz toll gemacht“. Was ein Lob sein soll, wirkt schulmeisterlich. Hier in der Börde mit ihren fetten Böden verstehen die wirklich was von Landwirtschaft.

Nun aber los zum Spanferkel, das seiner Größe nach zu urteilen eher ein Spanschwein zu sein scheint. Brav lässt Peer Steinbrück sich eine Schürze umbinden, mit Bratengabel und Messer schneidet er Portionen zurecht. Die Rottmerslebener bilden eine Schlange. Kameras klicken, hier entstehen gerade die wichtigen Bilder. Steinbrücks Pressesprecherin hebt vom Boden einen SPD-Luftballon auf.

Besser: Parteifreund

Auch Christel Gronenberg hat sich einen Teller geholt. Die 66-Jährige ist SPD-Mitglied. Schon ihr Großvater war Sozialdemokrat. Bevor er starb, sagte er: „Christel, wenn die Wiedervereinigung kommt, gehst du in die SPD, hörst du!“ Genau das tat sie. Bis heute kommt ihr die Anrede „Genosse“ nicht über die Lippen – „das Wort ist für mich immer noch DDR, mein Mann und ich sagen Parteifreund“.

Wie kommt dieser Kandidat, der Mann mit dem hanseatischen Akzent und der schnarrenden Stimme, bei ihr an? „Er bemüht sich“, antwortet Gronenberg. Seit seinem Antritt als Kanzlerkandidat werde er von den Medien ja regelrecht verfolgt. Versteht Steinbrück die Ostdeutschen? Verstehen schon, sagt sie, „aber ob da so viel Herzblut ist, weiß man nicht. Merkel wirkt da eher mütterlich.“ Steinbrück sollte den Osten mehr loben, wünscht sie sich. Und der Linkspartei endlich die Themen abjagen.

Der Kandidat verabschiedet sich jetzt, zwei Personenschützer begleiten ihn zum Wagen. Thomas Brzezinski steht etwas abseits und nippt an seinem Bier. Als Ortswehrleiter hat er eben noch mit Steinbrück über die Situation der Rottmerslebener Feuerwehr und den Stellenwert des Ehrenamts gesprochen. Brzezinskis Eindruck: „Er ist im Wahlkampf, er muss uns gut zureden.“ Man merke schon, dass dem SPD-Mann ein bisschen das Verständnis fehle, „wie es bei uns auf dem Land zugeht. Auch dass wir Deutsche zweiter Klasse sind, kann man wohl nicht von der Hand weisen.“ Er schaut freundlich aus seinem dunkelblauen Uniformkragen, „das werden wir dann noch bei der Rente merken“, sagt er. Er ist nicht bitter, er sagt nur, wie er es sieht.

Eine Stunde später beginnt Peer Steinbrücks „Klartext“-Veranstaltung. Ins Magdeburger Kulturwerk „Fichte“ sind vierhundert Menschen gekommen, um mit dem Kanzlerkandidaten zu diskutieren. Die meisten von ihnen sind SPD-Mitglieder, Pöbeleien sind nicht zu befürchten. Wie Steinbrück da steht – ebenerdig, im Scheinwerferlicht, umzingelt von den Zuhörern –, da spürt man: Jetzt ist er in seinem Element. Frage, Antwort, Frage, Antwort. Fakten abspulen, Witzchen reißen, streicheln und widersprechen. Glänzen. Am Ende dieses langen Tages wirkt der 66 Jahre alte Politiker wie neu.

So müsste es immer sein

Anderthalb Stunden prasseln die Fragen auf ihn ein. Blindengeld, Eurokrise, Mieten. Steuerflucht, Syrienkonflikt, energetische Gebäudesanierung. Die Genossen sind nicht schüchtern. Auf jede Frage antwortet Steinbrück, ohne ins Referieren zu verfallen. Auf und ab geht er in dieser Arena, den Kiefer vorgeschoben, den Nacken steif, die Linke in der Hosentasche. Er schnappt nach Wahlkampfhappen, weist, wo immer es sich anbietet, auf das SPD-Regierungsprogramm hin. Sagt einer Lehrerin, die sich über das Kooperationsverbot in der Bildung mokiert, der Bund müsse hier „stärker koordinieren“. Widerspricht einem Landwirt, der „zu viel Grün“ in der Agrarpolitik befürchtet. Und die Frage, wann das letzte Ministerium von Bonn nach Berlin umzieht, beantwortet er „auf Politikerdeutsch: Es wird zu prüfen sein.“ Die Leute lachen. Ach ja, so müsste es immer sein. Der Kandidat unter ihm Gewogenen, Stammtischatmosphäre, und wegen der Form der Veranstaltung muss man nie konkret werden.

Ein Mann meldet sich jetzt. Fünfzig Jahre habe er als Stahlbauschlosser geschuftet, sagt er in breitestem Magdeburger Dialekt. Und trotzdem habe er nun weniger Rente in der Tasche als die Leute in Niedersachsen, fünfzig Kilometer weiter. „Wann bekomme ich endlich meine Angleichung bei der Rente? Ich werde schließlich bald siebzig. Früher hieß es doch immer, wir sind Brüder und Schwestern. Wo bleibt mein Geld?“

Er verkennt die Situation

Ein emotionales Thema. Bei der Rente, beim Lohn drückt sich für die Leute hier mangelnde Wertschätzung aus. Arbeiten sie nicht auch Tag für Tag? Zahlen sie keine Steuern, keinen Soli? Also! Peer Steinbrück verkennt die Situation. Er verweist flugs auf das Regierungsprogramm der SPD, in dem die Rentenanpassung festgeschrieben sei. Sagt, dass an diesem Konzept „die Manuela Schwesig mitgearbeitet hat – die ist ja auch aus dem Osten.“ Das Ganze sei jedoch nicht mit einem Urknall zu bewerkstelligen, vielmehr werde das Problem über die Angleichung von Rentenpunkten geregelt. „Mit dem Ergebnis, dass eine solche Rentenanpassung in fünf, sechs Jahren erfolgt.“

Hier ist er wieder, der Beamte, der kühle Rechner, der einstige Bundesfinanzminister. Ein Kandidat, der es nicht fertigbringt, etwas wie Zuversicht zu verbreiten. Der lieber auf die Gesetzeslage verweist, statt einem interessierten Wähler einen Funken Mitgefühl zu schenken. Der Magdeburger Stahlbauschlosser setzt sich wieder hin. Die „Klartext“-Veranstaltung ist sowieso zu Ende. Im allgemeinen Aufbruch sagt ein Mann: „Das Gleiche würde ich jetzt gern mal von Merkel hören. Wie die als Frau und Ossi die West-CDU-Männer plattgemacht hat – also das find ich schon toll.“

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