Sabine Giesbrecht über Kriegspropaganda: „Ganz vorn wurde nicht musiziert“

Die Osnabrückerin Sabine Giesbrecht sammelt seit mehr als 40 Jahren historische Musik-Postkarten. Darunter sind auch Propagandakarten aus dem Ersten Weltkrieg.

Nicht so munter, wie es scheint: Mobilmachung im August 1914. Bild: dpa

taz: Frau Giesbrecht, wie kommt man darauf, historische Musikpostkarten zu sammeln?

Sabine Giesbrecht: Angefangen hat es mit einem Schulbuch über politische und und soziale Funktionen von Marsch und Tanzmusik in Deutschland, das ich vor vielen Jahren verfasst habe. Ich suchte Illustrationen und bin weder bei der hehren Kunst noch bei der Musikwissenschaft fündig geworden. Durch Zufall habe ich dann auf Trödelmärkten Karten gefunden aus der Zeit von Kaiser Wilhelm, der „Wacht am Rhein“ etwa. Als ich weiterschaute, fand ich auch Themen, die die Musikwissenschaft nie behandelt hat.

Zum Beispiel?

Studentinnenkarten. Frauen mit Schmissen, Bier saufend und Kommerslieder singend. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Später hab ich tatsächlich ein „weibliches“ Kommersliederbuch von 1902 gefunden. Da durften ja die ersten Frauen studieren, und infolgedessen gibt es Spottkarten ohne Ende. Dann fand ich Karten über Salons – Bilder von den tollsten Klavieren, Frauen mit Mann, ohne Mann – man konnte die gesamte Salonkultur mit Bildern belegen. So kam ein Thema zum anderen, wie es bei Sammlern so ist.

Und es ging Ihnen von Anfang an um „Musik auf Postkarten“?

Um alles, was im weitesten Sinne mit Musik zu tun hatte. Und als ich die ersten Hindenburg-Lieder fand, war klar, ich kann nicht nur diese Lieder sammeln, sondern brauche auch Karten, die die Liedtexte erläutern. Daraus hat sich ein Konvolut von 200 Karten mit Hindenburg-Liedern ergeben, das bis 1934 reicht und in Deutschland einzigartig ist.

Seit wann gibt es Postkarten?

Seit 1870. Und speziell Musikkarten wurden im Ersten Weltkrieg als Feldpostkarten in Millionenauflagen produziert. Die frühesten Karten meiner Sammlung stammen von 1894, und meine Sammlung reicht bis 1945.

76, Musikwissenschaftlerin, lehrte bis zu ihrer Emeritierung 2003 in den Fachbereichen Musikwissenschaft sowie Erziehungs und Kulturwissenschaften an der Universität Osnabrück. Sie ist Stifterin und Co-Leiterin der Sammlung Historische Bildpostkarten und hat 2014 den Band "Musik und Propaganda. Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Bildpostkarten" verfasst.

Warum dieser Zeitraum?

Weil Kaiserreich und Nazizeit für mich personell und inhaltlich zusammengehören. Wenn ich über 1945 hinaus gesammelt hätte, wäre es uferlos geworden.

Hatten Sie auch ein privates Interesse an dieser Epoche?

Ja. Einerseits stamme ich aus einer Generation, der es etwas verwehrt war, über das „Dritte Reich“ und dessen Vorläufer zu arbeiten. Als ich studierte, lagen die Quellen noch im Giftschrank.

Und andererseits?

… war mein Großvater Lehrer und Kantor in Tannenberg, sodass ich das ganze preußische Erbe sozusagen mit in die Wiege gelegt bekam. Ich bin eine alte Preußin – in Ostpreußen geboren und dann irgendwo hier gelandet. Ich wusste aber nie, ob ich Täter oder Opferkind bin.

15.000 Postkarten, die zwischen 1895 und 1945 gedruckt wurden, hat Sabine Giesbrecht seit 1980 zusammengetragen und systematisiert.

Eigentümerin der Sammlung ist seit 2010 die Universitätsstiftung Osnabrück.

Betreut wird die Sammlung von der Professur für Historische Musikwissenschaften.

Im Internet ist die Sammlung zugänglich unter: www.bildpostkarten.uni-osnabrueck.de

Warum nicht?

Gelernt habe ich, dass ich die Tochter eines Nationalsozialisten bin. Aber erlebt habe ich, dass wir in Königsberg ausgebombt wurden und die Hälfte meiner Familie auf der Flucht nach Westen umgekommen ist. Ich hatte praktisch keine Kindheit und kenne nur traurige Eltern, die wieder zurückwollten.

Wo genau stammen Sie her?

Aus Gumbinnen. Und es war für mich klar, wenn ich Bilder aus Gumbinnen, Königsberg oder Insterburg finde – dann integriere ich die in die Sammlung. Dieser private Anlass trat dann aber in den Hintergrund. Entscheidend war letztlich, dass die Musikwissenschaft einen Schwenk unternommen hat in Richtung Kulturwissenschaft. Für diese interdisziplinäre Öffnung, die vor 25, 30 Jahren begann, steht meine Sammlung. Musik sehen – das ist ja eigentlich absurd, und Postkarten als Quelle zu nutzen, wäre früher keinem eingefallen.

Welche Botschaft transportieren die Musik-Propagandakarten aus dem Ersten Weltkrieg, über die Sie jüngst ein Buch geschrieben haben?

Sie appellieren stark an die Solidarität. Dafür sind Musikdarstellungen besonders geeignet, weil man Zuhörer, Spieler sowie Sängergruppen zeigen kann, die für Zusammenhalt stehen.

Mit singenden Gruppen meinen Sie Soldaten.

Ja, es sind meist marschierende und singende Soldaten. Gelegentlich gibt es auch Chöre und Orchester, die für die Regimentsmusik wichtig waren.

Wird auf den Karten auch für Waffen geworben?

Ja, da gab es eine Riesenpropaganda. Allein die Darstellung der Firma Krupp und ihres Geschütztes „Dicke Berta“ nimmt einen großen Teil der Kriegspostkarten ein. Vor allem beim Angriff auf Belgien sind sie flächendeckend produziert worden. Da hat man die „Dicke Bertha“ in allen Stellungen und den grausamsten Zusammenhängen gezeigt. Da gibt es Karten, wo Menschenleiber und Teile von Forts herumfliegen. Dabei war die Darstellung von Verstümmelten eigentlich tabu.

Wie steht es um die Verherrlichung des Soldatenlebens?

Auch ein wichtiges Thema. Deshalb ist das Lied „Der gute Kamerad“ ja so oft illustriert worden. Und dann gibt es die typischen Soldatenlieder, die das Soldatenleben verherrlichen, aber nicht verschweigen, dass auch gestorben wird.

Manche behaupten, die Hasspropganda der Deutschen sei harmloser gewesen als die der Engländer oder Franzosen. Können Sie das bestätigen?

Nein. Ich habe sogar gelesen, dass man sich von Amts wegen gegen die brutalen deutschen Karten wandte, weil man fand, es schade dem deutschen Ruf. Aber sie galten wohl als humoristisch und waren recht verbreitet.

Haben Sie Beispiele für deutsche Hasspropaganda?

Da sind zum Beispiel Russen abgebildet, die wie ein Teppich ausgeklopft werden. Die Russen sind auf den Karten immer versoffen und verlaust. Die Engländer – oft personifiziert als John Bull – sind die Krämer, die eins auf den Deckel bekommen. Es gab ja Sprüche wie: „Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Klaps ein Japs.“

Und welche Lieder finden sich auf den Karten?

Meist Soldatenlieder wie „Die Wacht am Rhein“ oder „Bei Sedan“. Sie funktionieren nach dem Motto: Der Soldat zieht aus, kämpft, liegt irgendwann im Sterben und beauftragt seinen Kameraden, der Braut eine Nachricht zu überbringen: dass er immer treu gewesen ist.

Wurde im Schützengraben überhaupt musiziert, wie es die Karten suggerieren?

Der Slogan von der „Musik im Schützengraben“ täuscht in der Tat, denn ganz vorn an der Front wurde natürlich nicht musiziert. Es sei denn, es war Weihnachten oder sonst ein Feiertag.

Woher hatten die Soldaten an der Front die Liedertexte?

Es gab Liederbücher, die extra für die Front produziert wurden – Heftchen in Granatenform zum Beispiel, recht bizarr.

Die Soldaten brauchten die Liedtexte auf den Karten also gar nicht.

Nein, aber ich gehe davon aus, dass die Lieder versteckte Botschaften sind – gerade bei den Volksliedern, wo es um Sehnsucht ging. Heimatlieder waren ein Stück unausgesprochener emotionaler Beziehung zwischen dem Absender und dem Adressaten.

Und alle kannten diese Lieder.

Ja, denn bis weit in die 1940er Jahre hinein vermittelten die Grundschulen ein großes Repertoire an Volksliedern. Ich gehe davon aus, dass drei Viertel der Bevölkerung die Lieder kannten und beim Anblick des Textes sofort die Melodie assoziiert haben.

Ist das Ansinnen Ihrer Sammlung insgesamt ein politisches?

Im weitesten Sinne schon. Ich finde die in der klassischen Musikwissenschaft übliche Trennung zwischen Sozialgeschichte und Musik nicht mehr haltbar. Da hat es in den 1950er Jahren übrigens eine Debatte mit Adorno gegeben: Die Musikbewegung hat gesagt, was wollt ihr denn, die Soldaten haben doch nur gesungen! Und Adorno sagte: Darum geht es ja gerade. Darum, dass man das nicht trennen kann. Dass Musik Teil der gesamten kulturellen Bewegung ist – und eben nicht frei von politischen und sozialen Einflüssen.

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