Sachbuch "Nerd Attack!": Wunderbare Welt der Widersprüche

Vom Commodore 64 bis Twitter und vom BTX-System der Bundespost bis "Anonymous": Ein neues Sachbuch zeigt Entwicklungslinien des Netzes.

Vernetzt sind wir bestens, aber auch erleuchtet? Bild: Photocase / kallejipp

BERLIN taz | Es ist eine schwierige Aufgabe, einer Gruppe von Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit darin besteht Teile ihrer Identität zu verschleiern, mit einem "Wir-Gefühl" zu kommen.

Nicht gerade leichter dürfte es sein, eine gemeinsame Sprache zu finden für Bewohner einer Welt, in der ein Fünftel in irgendeiner Form PR betreibt und ein anderes Fünftel dieses Treiben ablehnt. Alles andere als einfach wird die Aufgabe auch dort, wo Datenschutz auf die freiwillige Bereitschaft trifft, alle Daten offenzulegen.

Willkommen im Internet. Hier sind schon die Grundkonstellationen voller Widersprüche: Kaum jemand will für etwas bezahlen, und doch wittern Unternehmen hier die großen Märkte. Wo Pseudonyme so gängig sind wie Anti-AKW-Buttons bei den Grünen, wird täglich mehr Transparenz in der Demokratie eingefordert. Was teilweise im Dunstkreis des Militärs entstand, schickt sich an, die weltweite Zivilgesellschaft zu stärken.

Schwer und leicht zugleich

Christian Stöcker, Ressortleiter Netzwelt bei Spiegel Online, macht es sich in "Nerd Attack!" leicht und schwer zugleich, einen Umgang mit all diesen gegensätzlichen Phänomenen zu finden. Leicht, denn zuerst einmal lässt sein Label der "Generation C64 ff." viele Differenzen in den Hintergrund treten.

Schwer, denn der Autor ist umsichtig genug, die Widersprüche nicht zwanghaft einebnen zu wollen. Dies ist, um es vorwegzunehmen, die große Stärke des Sachbuchs, dem auch die an vielen Stellen schlicht-verspielte Subjektivität Stöckers zugute kommt.

Sein erster Commodore 64 hat Stöcker nicht nur den Weg in die Welt der digitalen Spiele gewiesen, er war gleichzeitig auch die Startlinie für alles, was danach kam. Spiele für den C64 waren teuer, gecrackte Versionen hingegen einfach und für lau zu bekommen, auch wenn man nicht wusste, von wem sie stammten.

"Von der Anonymitätskultur von damals lässt sich eine direkte Entwicklungslinie ziehen zu den Privatsphäredebatten der Gegenwart", schreibt der Autor und weist, so gar nicht dem Klischee des unpolitischen Nerds entsprechend, zudem auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen hin, die der Genese der digitalen Netze vorausgingen oder sie begleiteten: 68, Hippies, libertäre Staats- und Konzernkritik, progressive Hacker.

Entwicklungslinien

Einige solcher Entwicklungslinien hat der Autor als zweite Strukturebene in sein Buch eingearbeitet, etwa jene, die sich vom BTX-System der Deutschen Bundespost über AOL bis zu Settop-Boxen von Kabelbetreibern ziehen. Das BTX-Bedienprinzip "Ja"-"Nein"-"Kaufen" begegnet uns heute bei Facebook wieder, wenn sich auch die Funktionalität vervielfältigt hat.

Deutlich wird dabei der Wunsch bestimmter Netztechnologie- und -Dienstleistungsanbieter nach überwiegend passiven Kunden statt mehrheitlich aktiven Nutzern und nach eingehegten Arealen und Monokulturen statt Wildwuchs in Vielfalt. Nicht ganz unschuldig daran ist Apple, lange Zeit von Nerds und Geeks als Alternative zu Microsoft gepriesen.

Auch auf die "kalifornische Ideologie" geht Stöcker ein, also die vermeintliche Befreiung der Individuen von staatlichen Zwängen und monopolistischer Marktzurichtung durch dezentrale, vernetzte und kreative Arbeit und Produktion, die schnell neue Zurichtungen des Individuums geschaffen hat.

Hier, an den Rändern, verflacht Stöckers Buch. Zwar erfahren wir noch allerhand über Debatten und Nutzer auf 4chan, "die Wiege der 'Anonymous'-Bewegung" (Wikipedia). Doch die Wechselwirkungen zwischen Subkulturen und Mainstream oder allgemeiner zwischen Underground und Pop werden nur noch ansatzweise verarbeitet. Weblogs und Twitter wurden durch Außenseiter interessant, bevor sie sich der Mainstream als Instrumente einverleibte. Aus der glatten Oberfläche werden heute wiederum Teile für neue unhandliche und randständige Zwecke herausgebrochen.

Stöcker liefert einen luziden, vielseitigen und nie langweiligen Blick auf 30 Jahre digitales Leben. Eine kritische Geschichte des Internets, die politisch interveniert, wo die Selbstbestimmung in Netzen in Frage steht, ist erst noch zu schreiben.

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