Sachsen-Anhalt: Herr Gewiese und das Volk

Uwe Gewiese wollte als Direktkandidat der AfD Anwalt des Volks werden. Den Bundestag verpasst er knapp – und feiert trotzdem.

Ein Mann in Anzug steht vor einem Hauseingang

„Wahltag ist Zahltag“, postete Uwe Gewiese auf Facebook Foto: Thomas Gerlach

GRANA taz | Aus der Zuckerfabrik steigen dünne Dampfsäulen in den grauen Sonntagshimmel. Gegenüber, auf dem Weg zum Sportlerheim von Grana, kommt Uwe Gewiese gelaufen. Aus der Ferne sieht er mit seinem schwarzen Anzug so aus, als gehe er mit ernster Miene zu einer Beerdigung. Das Gegenteil ist der Fall. Der 47-Jährige will einer Auferstehung beiwohnen. Das deutsche Volk erhebt sich und fordert mit fester Stimme Gerechtigkeit – für die Hartz-IV-Empfänger, die Aufstocker, die Alten mit mickriger Rente, die Zeitarbeiter, die Scheinselbständigen, die Taxifahrer, für die Alleinerziehenden, die Kinder und die Durchwurstler – kurzum: für das Volk, zumindest wie es sich in Sachsen-Anhalt anfühlt. Einer seiner Anwälte will Uwe Gewiese werden.

„Aus dem Volk, für das Volk“ steht auf Gewieses Plakaten. Sie zeigen einen Mann mit kantigem Profil, raspelkurzen Haaren und staatstragendem Blick. Im Wahlkreis 73 ist Uwe Gewiese Direktkandidat der AfD und seine Chancen stehen gut: Der Süden Sachsen-Anhalts ist nach dem Ende der Bernd-Lucke-Ära eine der Keimzellen der völkisch eingenordeten AfD. Bei der Landtagswahl im März 2016 kam die AfD hier auf 30 Prozent.

Jetzt, wo Gewiese vor einem steht, ist die Spannung zu spüren, die ihn erfasst hat. Die Arme verschränkt vor dem Bauch, so steht er mit schwarz glänzenden Schuhen, erklärt seine Politik in groben Zügen, breitet dabei gelegentlich die Hände aus und grüßt höflich die Nachbarn, die zur Stimmabgabe ziehen. Gewiese selbst hat schon gewählt. Seine Rhetorik kreist um ein Wort: Wir müssten in der Bundespolitik hinbekommen, dass Politik fürs Volk gemacht wird; Das Volk soll am Ende entscheiden und über Gesetze abstimmen; das letzte Wort soll das Volk haben.

Nach Gewieses Verständnis soll der Bundestag eine Art Referentengremium werden, das dem Volk die Gesetze vorzulegen hat. Welche Inhalte könnten das sein? Kostenlose Schulspeisung, keine Kitagebühren, Erhöhung des Kindergeldes und natürlich die Beendigung der „unkontrollierten Masseneinwanderung“.

Max Weber und Verantwortungsethik

Es hat manchmal etwas hölzernes, wie Gewiese nach möglichst glatten Formulierungen sucht. Dann wieder klingt es wie auswendig gelernt. Immer wieder krächzen Krähen, eine Birke steht reglos und die angeräucherten Finger der Linken würden zwischendurch wohl gern zu einer Zigarette greifen. „Da sind wir wieder bei Max Weber und der Verantwortungsethik“, fährt er fort. „Mahlzeit!“ ruft ein Wähler in den Kurzvortrag hinein. „Hallo!“, grüßt Gewiese. Dass die Bande zwischen dem Volkskandidaten Gewiese und dem Volk, zumindest dem des Industriedorfes Grana mit seinen 183 Wahlberechtigten, gar nicht so übermäßig eng sind, weiß er da noch nicht.

Die Anspannung löst sich ein wenig, als Gewiese sein Leben ausbreitet. Kurz vor der Wende absolviert er eine Lehre zum Stahlbauschlosser, Eintritt in die SED. Was nach 1990 kommt, ist, für seine Herkunft, eine Allerweltskarriere: Kellner in einer Disko, Taxifahrer, Bundeswehr, Trucker. Dann, nach 21 Jahren, Umschulung zum Speditionskaufmann. Jetzt arbeitet Gewiese bei einer Daimlertochter in der Nähe von Leipzig. Man könnte meinen, der fünffache Familienvater ist angekommen.

Ungültig gewählt 2013

Im Gegenteil. „2013 habe ich meinen Wahlzettel ungültig gemacht“, erzählt Gewiese. Keine AfD? Nein, viel zu wirtschaftsliberal. Zuvor stimmte er für die Kohl-CDU wegen der Wiedervereinigung, dann für die SPD, einmal FDP und einmal „ganz links und ganz rechts“ gleichzeitig. Dieser Spagat ist nun nicht mehr nötig. Uwe Gewieses Programm klingt nach DDR-Sozialismus, gepaart mit völkischem Pathos, das wie ein Samenkorn Jahrzehnte im Dunkeln überwintert hat.

In Sachsen-Anhalt holt die AfD 19,6 Prozent der Stimmen und wird nach der CDU (30,3) zweitstärkste Kraft. Aber: Noch vor anderthalb Jahren war die AfD bei der Landtagswahl auf 24,3 Prozent gekommen.

Die CDU als stärkste Partei sichert sich wie schon 2013 alle neun Direktmandate des Bundeslandes. Die Linke (17,8), die SPD (15,2), FDP (7,8) und Grüne (3,7) folgen auf den weiteren Plätzen. Die Wahlbeteiligung lag mit 68,1 Prozent um sechs Prozent höher als 2013.

AfD-Hochburgen bleiben – wie bei der Landtagswahl 2016 – dort die Regionen Anhalt, Mansfeld, Bitterfeld und Dessau-Wittenberg. Am stärksten schnitt die Partei im Wahlkreis 73 (Burgenlandkreis und in Teilen des Saalekreises) ab: Hier rückt die AfD mit 24,6 Prozent dicht an die CDU (29,9) heran. In einzelnen Gemeinden wurde die AfD sogar stärkste Partei, so u. a. in Merseburg, Zeitz, Kretzschau, Eisleben.

Einen kleinen Lichtblick bot die Unistadt Halle. Dort verfehlte zwar SPD-Kandidat Karamba Diaby zwar die Mehrheit. Doch der Mann, 1961 im Senegal geboren, kam mit 21,3 Prozent auf einen respektablen zweiten Platz – besser schnitt für die SPD nur deren Landeschef Burkhard Lischka in Magdeburg (21,7) ab. Gleichwohl: Diaby zieht per Ausgleichsmandat zum zweiten Mal in den Bundestag ein.

„Ich hoffe, dass es uns gelingen wird, deutliche Akzente zu setzen“, verabschiedet sich Gewiese und geht gemessenen Schritts nach Hause. Den Abend wird er in Magdeburg verbringen. Der Gang im neuen Dress mit dem blauen Parteiabzeichen am Revers mag unsicher sein. Dennoch – da hat einer seine Heimat wiedergefunden.

Uwe Gewieses ­Programm klingt nach DDR-Sozialismus, gepaart mit völkischem Pathos

Staatlicher Zierrat fehlt im Wahllokal von Grana völlig. Es gibt kein Schwarz-Rot-Gold, dafür umso mehr goldglänzende Pokale, dazu Mannschaftsbilder von Blau-Weiß Grana. Merkwürdig, das hat Uwe Gewiese gar nicht moniert. Bei seiner Stimmabgabe ließ er sich mit gestraffter Brust und in einer Pose von seiner Frau ablichten, wie man sie aus der Tagesschau kennt. Danach stellte er das Bild auf Facebook und kommentierte „Wahltag ist Zahltag“.

Verheerendes Ergebnis für die CDU

Von Neonröhren ausgeleuchtet beugen sich fünf Damen über 136 Wahlzettel, ordnen sie zu dünnen Stapeln, rufen sich über die Tischreihen Zahlen zu. Um 18.40 Uhr vollzieht Frau Hoffman die „Schnellmeldung“ an das Landratsamt. Uwe Gewiese hat 35 Erststimmen erhalten, der CDU-Kandidat allerdings 51. Auch die Zweitstimmen deuten darauf hin, dass Gewiese zumindest in seinem Wohnort nicht der Kandidat der Herzen war: 26 Prozent für die AfD, 37 Prozent für die CDU. Da feiert Uwe Gewiese schon in Magdeburg mit dem Landesvorstand.

Dieter Stier sitzt in der Ecke und fällt nicht weiter auf im Alten Brauhaus in Weißenfels, wo die CDU des Burgenlandkreises den Wahlabend verbringt. Von Feiern kann keine Rede sein. „Das Ergebnis ist ja insgesamt verheerend“, sagt der 53-jährige Stier jetzt ins Telefon. Die AfD hat im Wahlkreis 73 mit 24,6 Prozent landesweit ihr bestes Ergebnis geholt. Doch der CDU-Kandidat Stier, seit 2009 mit Direktmandat im Bundestag, hat seinen Wahlkreis vor dem Zugriff des Emporkömmlings Gewiese gerettet – und damit auch seine Karriere.

Anders als in Sachsen. Für die sächsische CDU hört man hier regelrechte Beileidsbekundungen. Götz Ulrich, CDU-Kreisvorsitzender und Landrat beugt sich über einen Laptop und vergleicht die Wahlergebnisse von Sachsen-Anhalt mit denen aus den anderen ostdeutschen Ländern. Das ganz große Fiasko bleibt Sachsen-Anhalt diesmal erspart.

Der schmächtige Höcke ruft

Doch der Landrat ist besorgt. Die AfD wird mit den nun üppiger fließenden Geldern ihre Infrastruktur und ihren ideologischen Unterbau festigen, vor allem in der Provinz. Unweit von Weißenfels, im Dörfchen Schnellroda, betreibt der Neurechte und AfD-Einflüsterer Götz Kubitschek sein Institut für Staatspolitik. Solche Leute werden das Sagen haben, nicht Uwe Gewiese.

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Und in Magdeburg tritt Björn Höcke vor das Mikrofon: „Unser Volk ist ein gutes und duldsames Volk“, hebt er an. Der Thüringer AfD-Chef ist extra nach Sachsen-Anhalt geeilt. Seine Rede ist die erste und längste des Abends. Höcke verkündet die Geburt „einer neuen seriösen patriotischen Volkspartei“. Und irgendwo da unten steht zwischen Parteifreunden ein beseelter Uwe Gewiese.

Und irgendwo da unten steht zwischen Parteifreunden ein beseelter Uwe Gewiese

Der schmächtige Höcke ruft mit dunkler, weicher Stimme: „Frau Doktor Angela Merkel, treten Sie zurück!“ Die Anhänger toben. Es ist wie eine Pegida-Demonstration im geschlossenen Raum, wie ein Fackelzug ohne Fackeln. Höcke, der selbst gar nicht zur Wahl stand, gibt eine Kostprobe der neuen Macht – und der neuen Hierarchie. André Poggenburg, Sachsen-Anhalts AfD-Statthalter, echot später nur kurz: „Wir sind Zeuge gewesen: dem Entstehen einer neuen wahrhaften Volkspartei!“ Beim Wort „Volkspartei“ klirren die Boxen.

Höckes Gliederpuppen

Dass keiner der neuen Bundestagsabgeordneten der neuen Volkspartei mit oben stand, fällt nicht weiter auf. Die Bühne ist Björn Höckes Bühne. Der atmet die neue Größe mit jedem Zug ein. Parteisoldaten wie Uwe Gewiese und wohl auch Lehrlinge wie Poggenburg steckt so einer – wenn es sein muss – wie Gliederpuppen in die Tasche zurück.

Dass es für ihn persönlich nicht gereicht hat, weiß Uwe Gewiese am nächsten Morgen. Unzufrieden klingt er am Telefon nicht. Müde schon. Ein beachtliches Ergebnis habe er als Newcomer eingefahren, fasst er zusammen. Sensationell sei das Gesamtergebnis der Partei. Und immerhin bestehe für ihn ja noch die Möglichkeit, über ein Ausgleichsmandat in den Bundestag zu kommen, deutet er an. Gewiese steht auf der AfD-Landesliste auf Platz Nummer fünf.

Vorerst wartet er zu Hause in Grana auf seine weitere Verwendung. Sehr bald jedenfalls wird er wieder Mercedes-Transporter verkaufen. „Ich gehe davon aus, dass ich morgen wieder ins Büro fahre.“ Ihm bleibt auch nichts weiter übrig. Sein Jahresurlaub ging für den Wahlkampf drauf.

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