„Schach-Flüsterer“ wechselt die Seiten: „Der bessere Freund möge gewinnen“

Vom Weltmeister zum Weltranglistenersten: Eröffnungs-Spezialist Peter Heine Nielsen wechselt von „Vishy“ Anand zu dessen WM-Gegner Magnus Carlsen.

2010 in Bilbao: Anand gegen den damals 19-jährigen Carlsen. Bild: dpa

BERLIN taz | Die Bibel der Schach-Eröffnungen, der Informator, hat Peter Heine Nielsen schon mehrfach den Preis für die beste neue Idee verliehen. Was der Däne aber aus den ersonnenen brillanten Eröffnungszügen am Turnierbrett dann selbst macht, frustriert den Weltranglisten-87. zuweilen ziemlich.

Mit ein Grund, warum Nielsen dem Inder Viswanathan Anand als Sekundant diente und jetzt zum Norweger Magnus Carlsen wechselte. „Sie vollstrecken ganz anders als ich. Ihre Verwertung meiner Ideen macht Freude“, gesteht der 39-Jährige unumwunden.

Die Rochade vom Weltmeister zum Weltranglistenersten hat in der Szene wie eine Bombe eingeschlagen – im Prinzip ist es, als wechselte Jupp Heynckes vor dem Champions-League-Finale von Bayern München zu Borussia Dortmund.

Zwar gilt der 22-jährige Carlsen schon lange als Kronprinz von Anand; der „Transfer“ des Eröffnungsexperten wurde aber dadurch besonders pikant, dass sich Nielsens neuer Schützling für den WM-Zweikampf im November qualifizierte. Umgehend witterte mancher Ränke: Der „Tiger von Madras“ würde nun schon allein deshalb in seiner Heimatstadt den Kürzeren ziehen, weil Nielsen alle Eröffnungsgeheimnisse ausplaudert.

Von Anand zu Carlsen

Doch der Däne denkt nicht im Traum daran, den Judas zu spielen. „Bei der WM bin ich völlig neutral“, sieht sich der Großmeister in keiner Zwickmühle, „ich kenne so viele Geheimnisse von ’Vishy‘ – das geht überhaupt nicht, dass ich plötzlich gegen ihn antrete. Ich bin mit beiden befreundet und hatte mit ’Vishy‘ über viele Jahre hinweg eine tolle Zeit, da kann ich jetzt keine krummen Dinger drehen. Ich habe es hinbekommen, nicht mehr für ihn zu arbeiten – aber gegen ihn zu arbeiten, das schaffe ich nicht!“

Nielsen hält sich auch gerade beim Turnier im norwegischen Stavanger im Abseits, wo seine beiden Mannschaftskameraden beim deutschen Meister OSG Baden-Baden im Einsatz sind. Nach drei Siegen in Folge rückte Carlsen auf 5:2 Punkte vor. Anand (4:3) ist als Dritter zwei Runden vor Schluss bereits abgeschlagen.

Der Wahl-Russe Sergej Karjakin trumpft bis dato groß auf: Der gebürtige Ukrainer führt mit 5,5:1,5 Punkten vor Carlsen, obwohl er diesem im direkten Duell unterlag. Das Prestigeduell zwischen dem norwegischen Jungstar und dem Weltmeister endete friedlich mit einem Remis. Nielsen hielt sich davon fern – anstatt um die weißen und schwarzen Damen auf dem Brett kümmert er sich lieber in Litauen um die seines Herzens, die Weltklasse-Großmeisterin Viktorija Cmilyte.

„Chance zum Wechsel“

Untätig bleibt er in Palanga nicht und kann an der baltischen Küste an neuen Abspielen feilen: Allein oder bei Trainingslagern sitzen die Sekundanten vor dem Computer und prüfen mit den Schachprogrammen spielbar scheinende Eröffnungen und sich daraus ergebende Varianten über zehn und mehr Züge tagelang aus.

Programme wie „Houdini“ oder „Fritz“ und „Shredder“ sind mittlerweile alle viel stärker als die Großmeister. „Wir überlegen, was für ein Repertoire wir aufbauen und wie wir die Varianten-Pipeline füllen“, beschreibt Nielsen die Vorgehensweise, um den Gegner möglichst auf dem falschen Fuß zu erwischen. Wer diesen überraschen kann mit neuen Eröffnungsideen, hat einen kleinen Vorteil.

Der sei aber im Vergleich zur Prä-PC-Zeit, als etwa in der Sowjetunion ganze Horden für den Weltmeister analysierten, heutzutage minimal. Allein der Weltranglistendritte Wladimir Kramnik hole noch „das Maximale aus der Eröffnung heraus“ und dient Nielsen als Vorbild.

Die Aufgabe bei seinem neuen Schützling scheint für den Dänen relativ leicht: „Es ist klar, dass die Eröffnung nicht zu den Stärken von Magnus zählt. Er spielt aber danach grandios!“ Weil Carlsens Spielstärkezahl deshalb bereits jetzt weit höher als die der anderen ist, müsse die Vorstellung für die Konkurrenten „natürlich gruselig sein“, dass der 22-Jährige die Schwächen dank Nielsen auch in der Anfangsphase der Partie ausmerzt.

Der Sekundant nutzte „die Chance zum Wechsel“, um mit einem weiteren „außergewöhnlichen Spieler“ zusammenzuarbeiten. Ein bisschen denkt der 39-Jährige aber auch daran, sich bis zur Rente abzusichern – Carlsen könnte das Schach auf Jahrzehnte dominieren. „Aber erst muss er wie ’Vishy‘ viermal Weltmeister werden“, unterstreicht Nielsen und schließt mit Blick auf das WM-Match im November mit einer neutralen Prognose: „Der bessere meiner Freunde möge gewinnen!“

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