Schattenwirtschaft in Russland: Die Garagenökonomie

In kalifornischen Garagen haben sie die digitale Revolution vorangetrieben. Auch die Garaschniki werkeln erfolgreich am Staat vorbei.

Mitarbeiter in der Möbelfirma von Alexander Sinerkin – sie haben einen Arbeitsvertrag Foto: Grzegorz Szymanowski

ULJANOWSK taz | Auf den ersten Blick wirkt die Pjetrow-Schlucht verlassen. Trotzdem ist sie eindrucksvoll. Fast 500 Garagen schmiegen sich in engen Reihen an die Hänge. Die Türen sind verschlossen, die Straßen scheinbar leer. Eigentlich also alles normal für eine Gegend am Stadtrand von Uljanowsk, einer Stadt etwa 900 Kilometer östlich von Moskau am Ufer der Wolga.

Doch der aus den Schornsteinen aufsteigende Rauch verrät, dass hier Menschen sind. Mit einem lauten Kreischen öffnet sich die Metalltür zu einer Garage. Drinnen ist es warm, der Geruch von Holzleim hängt in der Luft. In der Mitte des Raumes steht ein lachsfarbenes Chesterfield-Sofa. Hier arbeiten die beiden Mittdreißiger Nail und Sascha sowie der ein wenig jüngere Konstantin. Auf einem Dutzend Quadratmeter bauen sie Möbel. Ein paar Arbeitstische mit Werkzeugen stehen bereit, auf dem Boden liegen Bretter und einige Matratzen.

Das Sagen hat die 54-jährige Elena. Ihr Büro ist in der Garage nebenan untergebracht, ihr Schreibtisch befindet sich direkt am Eingang. Etwas weiter hinten sitzt eine Mitarbeiterin an der Nähmaschine. An den Wänden hängen Stoffteile, in den Regalen liegen Nadeln und Garne. Zusammen bilden diese zwei Garagen eine vollwertige Möbelmanufaktur.

Preiswerte, solide Möbel

Mit legaler Wirtschaft hat all das nichts zu tun. Dem Gesetz nach ist Gewerbe in den Garagen untersagt, und keiner von den Mitarbeitern Elenas ist offiziell angestellt. „Hier arbeiten alle so“, sagt die Chefin trocken. Ihre Nachnamen wollen sie und ihre Jungs deswegen lieber nicht preisgeben.

Elena selbst hat 2011 nach der Trennung von ihrem Mann angefangen, Möbel zu bauen. Oder bauen zu lassen. „Irgendwie muss man halt überleben.“ Das erste Sofa ließ sie noch zu Hause zusammennageln. Sie kaufte das Material und bezahlte zwei Arbeiter. „Bis heute organisiere ich nur“, sagt sie und lacht.

Vor allem auf Nail, Sascha und Konstantin muss sie ein Auge werfen. Sie sind erst ein paar Wochen hier, ihre Vorgänger hat Elena gefeuert. „Sie haben sich die ganze Zeit abgeschossen“, erklärt sie. „Die Neuen trinken zwar auch, aber zumindest lassen sie die Finger von Drogen“, tröstet sie sich. Heute ist Elena besonders streng und macht unablässig Kontrollgänge, denn morgen muss das Sofa geliefert werden. Bis dahin ist noch einiges zu tun.

Als Awiastar pleite ging

Elena zeigt einen kleinen, laminierten Katalog mit Bildern ihrer Möbel. Es sind einfache Sofas aus dem Niedrigpreissegment: „billig, aber qualitativ hochwertig, wie von einem der großen Hersteller“, sagt sie voller Stolz. Über Großhändler werden sie an Möbelsalons in Moskau, Kasan und Samara verkauft. Durchschnittspreis: 15.000 Rubel, also etwa 200 Euro. Das ziemlich robust wirkende Chesterfield ist noch ein Prototyp – vielleicht kann es für 30.000 Rubel verkauft werden.

Die Pjetrow-Schlucht liegt in der Neustadt von Uljanowsk. In den 1970er Jahren wurde dieser Stadtteil für die Fabrik des Flugzeugbauers Awiastar errichtet. In dem Werk arbeiteten über 45.000 Menschen. Doch nach dem Zerfall der Sowjetunion erlitt die Awiastar das gleiche Schicksal wie so viele sowjetische Unternehmen: Privatisierung, Massenentlassungen, Bankrott.

„Als das Unternehmen im Jahr 2000 pleiteging, fingen die Leute an, Teile aus der Fabrik zu entwenden und daraus in ihren Garagen Türen und Fenster zu bauen“, sagt Alexander Pawlow, Chefredakteur des lokalen Internetportals Ulgrad.ru. Er ist 34 Jahre alt und untersucht die „Garagenökonomie“ für die Moskauer Stiftung „Chamowniki“.

Alexander Pawlow, Ulgrad.ru

„Die Leute verschwinden aus dem Blickfeld des Staats und sorgen für sich selbst“

Und obwohl Awiastar mittlerweile wieder Flugzeuge baut und jetzt wieder 10.000 Menschen dort arbeiten, hat sich die Garagenwirtschaft etabliert. Laut Pawlows Berechnungen beträgt der Jahresumsatz der ganzen Möbelbranche in Uljanowsk jährlich 3 Milliarden Rubel, umgerechnet fast 40 Millionen Euro, während offiziell registrierte Firmen in der Stadt nur eine halbe Milliarde Umsatz erwirtschaften.

Keine Rebellion

Fast 12.000 Garagen werden schätzungsweise in Uljanowsk für kommerzielle Zwecke genutzt. Seit der Krise 2008 wird das Geld immer knapper. „Die Menschen tauchen ab, verschwinden aus dem Blickfeld des Staates und sorgen für sich selbst“, sagt Pawlow.

Die blühende Schattenwirtschaft erklärt teilweise, warum aus der düsteren Lage der russischen Wirtschaft keine große Unzufriedenheit mit der Staatsmacht erwächst. Im letzten Jahr ist das russische Inlandsprodukt um 3,7 Prozent geschrumpft, die Inflation lag bei fast 13 Prozent.

In Uljanowsker Garagen blüht die Wirtschaft. Fenster, Baumaschinenteile, sogar Gitarren verlassen die Garagenstadt. Es gibt Tanzschulen und ein Café. Autowerkstätten sind fast genauso zahlreich wie die Möbelbauer. Es ist eine kleine Stadt in der Stadt. Moskau, Putin und die große Politik sind weit weg.

In Elenas Garage ist es nur Sascha, der unbedingt über Politik sprechen will. Und er stellt Fragen über Fragen: Warum hasst der Westen die Russen so sehr? Ist Deutschland schon überflutet mit arabischen Flüchtlingen? Was denkt man dort über die Ukraine? Sascha selbst sagt: „Ich bin stolz auf unseren Präsidenten, auf Putin.“ Auf seine Aufregtheit reagieren die anderen nur mit nachsichtigem Lächeln. „Der guckt einfach zu viel Fernsehen“, sagt sein Kollege Nail und lacht.

Kaum Kontrollen

„Garaschniki“, wie man die „Garagenarbeiter“ nennt, betreiben ihr Gewerbe ohne Anmeldung und Arbeitsverträge. Oder sie imitieren diese nur, um von den Behörden in Ruhe gelassen zu werden. In Elenas Garage ist die Chefin als Einzige offiziell angestellt, und zwar als Vorsitzende einer Art GmbH. „Manchmal gibt es staatliche Kontrollen, aber die machen keine großen Probleme“, erzählt sie und fügt schnell hinzu: „Kommt mal besser in einem Jahr, bis dahin baue ich hier noch die zweite Etage an!“

Warum tolerieren örtliche Behörden die Garaschniki? „Sie verstehen ganz gut, dass zu großer Druck zu Unruhen führen kann, und davor haben sie bei uns wirklich Angst“, sagt der Journalist Pawlow in seinem Büro in der Stadt.

Die russische Regierung ist sich der Maßstäbe der Schattenwirtschaft sehr wohl bewusst. „Von 86 Millionen Arbeitsfähigen sind nur 48 Millionen in Sektoren tätig, die für uns sichtbar sind“, räumte schon 2013 die russische Vize-Premierministerin Olga Golodez ein. „Wir wissen nicht, wo und womit sich die anderen beschäftigen.“ Und ihre Zahl wächst.

Manchmal aber schaffen es Unternehmer auch aus der Garage in die Legalität. Der Möbelbetrieb von Alexander Sinerkin ist ein gutes Beispiel. Der Dreißigjährige hatte 2011 ein paar Garagen gekauft und begann, einfache Tische herzustellen, Stückpreis 1.000 Rubel, etwa 14 Euro.

Die Garagen sind verbunden

Heute besteht sein Betrieb aus einem ganzen Garagensystem, die Garagen sind unter­einander verbunden. Manchmal hat er eine zweite Etage draufgesetzt. Auf 3.000 Quadratmetern arbeiten nun über 100 Menschen in drei Schichten täglich.

Neben seinem Geschäft ist Sinerkin ein berühmter Mixed-Martial-Arts-Kämpfer. Viele seiner Arbeiter hat er über den Kampfsportverein angeheuert, den er nun auch finanziell unterstützt. „Wir wollen einen gesunden Lebensstil unter unseren Jungs verbreiten“, erzählt Sinerkin. Bei ihm wird nicht getrunken, beteuert er. Auch weil es so viel Arbeit gibt. In seinem winzigen Büro hängt ein großes Plakat mit zwei Kämpfenden an der Wand.

Dank des schwachen Rubelkurses produziert Sinerkin nun günstiger als ausländische Anbieter. Dadurch ist er heute mit 6.000 Tischen im Monat der größte russische Produzent im Niedrigpreissegment.

All das wäre nicht möglich ohne eine Einigung mit der Regionalverwaltung. „Hier wäre es schwierig, die Sicherheitskontrollen zu überstehen“, gesteht Sinerkin und deutet auf die Ausstattung der Garage. Die Maschinen sind zwar nagelneu, aber sie stehen in winzigen Räumen. Sinerkin hat sich daher mit dem Gouverneur der Region Uljanowsk verständigt und hat seine Firma legal angemeldet. Nun bezahlt er Steuern und hat mit allen Arbeitern Verträge abgeschlossen.

„Früher hat die Mehrheit ohne Vertrag gearbeitet. Die Jungs vertrauen dem Staat nach wie vor nicht, und wenn sie wählen könnten, würden sie lieber weiter schwarz arbeiten“, erzählt Sinerkin. Jetzt baut er am Stadtrand eine richtige Fabrikhalle. „Vielleicht fünf Prozent der Garaschniki bringen es zum Aufbau einer richtigen Firma. Der Rest ist reine Selbstbeschäftigung“, schätzt er. „Um zu überleben.“ Nicht für, nicht gegen, sondern neben dem Staat existieren – für immer mehr Russen ist das die Lösung.

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