Schauspieler über die neue Verfassung: "Ungarn leben in der Vergangenheit"

Sein Land hat Probleme mit der Demokratie, aber ist noch lange keine Diktatur, sagt einer der Köpfe der Protestbewegung gegen die Regierung Viktor Orbán, János Kulka.

Peinlich berührt: Immer mehr Ungarn protestieren öffentlich gegen die Politik von Premierminister Viktor Orbán. Bild: dapd

Was stört Sie an der neuen Verfassung am meisten?

János Kulka: Dass ich so gut wie nichts darüber wusste. Der Inhalt der neuen Verfassung hätte mit den Bürgern Ungarns diskutiert werden sollen.

Gehört das nicht zu Orbáns Strategie, Informationen zurückzuhalten?

Das weiß ich nicht. Allerdings ist es kein gutes Signal, das Wort "Republik" aus dem Namen des Landes zu streichen. Die Republik ist doch eine Errungenschaft!

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Ich bin ein glückliches Mitglied des Nationaltheaters und ungarischer Staatsbürger, der dieses Land liebt und den gesunden Menschenverstand trotzdem nicht verloren hat. Du kannst dein Land nämlich auch dann mögen, wenn du mit der Politik der Regierung und ihren Methoden nicht einverstanden bist. Außerdem bin ich Optimist, denn ich hoffe sehr, dass bei den nächsten Wahlen eine neue Regierung ans Ruder kommt. Und ich weigere mich, mir den Tod der ungarischen Nation auch nur vorzustellen.

Der preisgekrönte Schauspieler des Budapester Nationaltheaters wurde 1958 geboren. Er zählt zu den bekanntesten öffentlichen Personen Ungarns und ist seit einem Jahr Teil der Bewegung "Eine Million für die Pressefreiheit".

In vielen ausländischen Medien ist bereits von einer kommenden ungarischen Diktatur die Rede.

Die Situation sollte so gesehen werden, wie sie ist: Ungarn ist eine Demokratie, in der alle vier Jahre demokratische Wahlen stattfinden. Trotzdem muss man feststellen, dass wir hinterherhängen, was das Lernen von Demokratie angeht. Politiker ist ein Beruf, der von Profis ausgeübt werden sollte. Bei uns machen es meistens Laien. Zudem spielt hier die Politik eine zu große Rolle im Alltag der Menschen und macht sie schlicht hysterisch.

Hysterie? In der internationalen Presse löste die Auswechslung des Intendanten am Neuen Theater auch einen Aufruhr aus.

Natürlich macht sie auch mir Sorgen. Die Neubesetzung der Intendanz war eine politische Entscheidung, die mit dem Theater und seinen Aufführungen nichts zu tun hat. Der neu ernannte Intendant, György Dörner, wurde von der rechtsradikalen Gruppe der "Goi Motorradfahrer" begrüßt, und sie kündigten an, sie werden mit Motorrädern die Andrássy-Allee entlang auffahren und der Premiere im Lederoutfit beiwohnen. Ich begreife so etwas nicht. Nicht im 21. Jahrhundert, nicht mitten in Europa. Auch wie der Intendant des Nationaltheaters, Róbert Alföldi, im Parlament offen als Schwuchtel bezeichnet werden kann, ist mir ein Rätsel. Zurzeit probe ich "Nathan den Weisen" von Lessing. Das Stück ist leider sehr aktuell heute in Ungarn: Juden, Christen, Muselmanen - wir sind alle vor allem Menschen!

Muss man heute in Ungarn Angst haben?

Viele haben Angst, doch ich finde das übertrieben. Man sollte weiter in Ruhe seine Meinung sagen. Ich denke nicht, dass die Regierung dem Land Böses antun will. Aber sie haben eine sehr eigenartige Denkweise, die mir nicht in den Kopf will. Viktor Orbán hat sicherlich eine Vision von Ungarn, die ich aber nicht begreife, denn wie kann man sich mitten in Europa so isolieren wollen? Ich war so froh, als wir EU-Mitglied geworden sind! Heute aber schürt die Regierung die Angst, das Ausland wolle Ungarn aufkaufen. Womit ich einverstanden bin, ist, dass der Kapitalismus an seine Grenzen gekommen ist, und auch, dass der Mensch grundsätzlich gierig ist. Der Mensch ist des Menschen Wolf. Trotzdem herrscht in unserem Teil der Welt Demokratie. Unsere Regierung zieht aus diesem Paradox die falschen Schlüsse: Sie will Ungarn vor der bösen Welt schützen und versucht den Alleingang. Es tut mir weh zu sehen, dass wir rückwärts laufen.

Daran ist aber nicht nur die Regierung schuld. Viele Ungarn teilen diese antieuropäische Haltung.

Richtig. Das hängt damit zusammen, dass wir unsere chaotische Vergangenheit noch immer nicht aufgearbeitet haben. Deshalb können wir uns auch nicht von ihr lösen. Ungarns Gesellschaft ist frustriert. Denn viele hatten in ihrer Familie entweder einen kommunistischen Parteifunktionär oder ein Familienmitglied, das in Auschwitz ermordet wurde. Mindestens seit den 40er Jahren hat jede Familie eine sehr schwere Zeit durchgemacht. Wir können unsere Vergangenheit nicht so bewältigen wie zum Beispiel die Deutschen. Ich weiß nicht, wann dies ein Ende nimmt. Mein Gewissen ist sauber, ich zahle auch ordentlich Steuern. Aber viele eben nicht. Viele haben etwas zu verstecken oder irgendetwas in ihrer Vergangenheit, worüber besser nicht geredet wird.

Deshalb können Politiker in Ungarn kritische Stimmen so leicht zum Schweigen bringen?

Vielleicht. Oder vielleicht sind wir zu bequem und schweigen lieber.

Fühlt sich die Widerstandsbewegung eigentlich international unterstützt im Kampf gegen Orbán?

Von einem Kampf kann ja keine Rede sein. Aber internationale Solidarität spüren wir schon. Europa schaut zwar mit Verwirrung zu, doch Ungarn ist ein liebenswertes Land. Hierzulande sollte man sehen, dass das Ausland sich vor allem um uns Sorgen macht. Stattdessen denken die meisten Ungarn, die Welt würde sich gerade gegen sie verschwören. Die Wahrheit ist: Die Welt ist nicht gegen Ungarn, sondern will nur eine ausgeglichene, bürgerliche Demokratie in diesem Land sehen.

Wie geht es weiter?

Wir brauchen eine breite, demokratische Vereinigung, eine Solidarität, neue Parteien, die von jungen Menschen geleitet werden, die keine plagende Vergangenheit haben, wir brauchen gute Politiker. Ungarn muss rationaler werden. Imre Kertész schreibt in seinem Roman "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind", dass Menschen dazu neigen, sich Dämonen zu erfinden, auf die sie ihre schlechten Wünsche projizieren, um sie in Ruhe in deren Schatten ausleben zu können. Böse sind also immer die Anderen. Dabei können nur wir selbst unser Schicksal ändern, jeder für sich individuell. Wir müssen begreifen, dass es harte Arbeit ist, die Demokratie am Leben zu erhalten.

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