Schicksal einer Intersexuellen: Jede Bluse eine Mondlandung

Christiane Völling wurde mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren. Ärzte erklärten sie zum Jungen. Nach über 45 Jahren erkämpft sie sich ihre Identität zurück.

Sie war 18 Jahre alt, als ihr ein Arzt ohne ihre Zustimmung Gebärmutter und Eierstöcke entfernte: Christiane Völling. Bild: fackelträger verlag

Wäre es zu optimistisch formuliert, zu sagen, dass das Leben einen Sinn hat? Oder, weniger pathetisch, dass es gute Gründe gibt, morgens das Bett zu verlassen, unter die Dusche zu gehen, sich mit dem Kajalstift einen feinen Strich unter jedes Augenlied zu zeichnen, Ohrringe auszusuchen, ein Halstuch dazu, und dann einen Spaziergang am Rhein zu machen? Wäre es unangemessen, davon auszugehen, dass es eben einfach gut ist, noch da zu sein?

"Ich bin 52 Jahre alt. Was soll da noch kommen?", fragt Christiane Völling. Sie steht in der Fußgängerzone von Düsseldorf, blinzelt in die Sonne, es riecht nach in Öl gebackenem Teig und zum ersten Mal in diesem Jahr nach Frühling.

Christiane Völling hat sich heute Morgen den Lidstrich gezogen, die Ohrringe ausgewählt, das Halstuch, und sie hat vorgeschlagen, zum Rhein zu laufen. Trotzdem: Es fällt ihr schwer, die Gründe zu benennen, für die es sich lohnt, Tag für Tag weiterzumachen. "Ich muss sehr auf mich aufpassen in solchen Momenten", sagt sie.

Denn Christiane Völling ist ein Mensch, dem gerichtlich bescheinigt wurde, dass sie ein verpfuschtes Leben hat. Sie hätte als Frau leben können, so wie sie sich immer gefühlt hatte. Mit etwas Glück und Medizinergeschick hätte sie sogar Kinder bekommen können, wenn sie gewollt hätte. Sie war ja eigentlich eine Frau. Aber die, die es wussten, verheimlichten es ihr.

Sie war 18 Jahre alt, als ihr ein Arzt ohne ihre Zustimmung Gebärmutter und Eierstöcke entfernte. Mehr als 46 Jahre ihres Lebens bestritt Christiane Völling als der Mann Thomas. Sie wurde körperlich verstümmelt. Es war ein Martyrium, das als Kind begann und bis heute nicht richtig aufgehört hat.

Kaputt in der heilen Welt

Christiane Völling ist intersexuell. Wie 100.000 Menschen in Deutschland, eins von 5.000 Kindern, wurde sie mit uneindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren. Ärzte interpretierten ihre vergrößerte Klitoris als Mikropenis und erklärten sie zum Jungen.

Der Begriff: Intersexualität bedeutet, dass bei einem Menschen die körperlichen Geschlechtsmerkmale – etwa Chromosomen, Hormone oder Genitalien – nicht ausschließlich männlich oder weiblich ausgeprägt sind.

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Die Unterscheidung: Intersexualität ist nicht gleich Transsexualität. Bei transsexuellen Menschen sind die körperlichen Geschlechtsmerkmale eindeutig, sie passen aber nicht zu dem gefühlten, eigentlichen Geschlecht der Person.

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Das Buch: "Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle" von Christiane Völling ist im Fackelträger Verlag erschienen. Ihre Koautorin Britta Julia Dombrowe hat auch die Arte-Dokumentation "Tabu Intersexualität" gedreht.

Dass es viele Menschen gibt, die weder Mann noch Frau sind, Intersexuelle, erfuhr sie erst zufällig. Ein Urologe bat sie, an einer Befragung teilzunehmen. Einer, in der Intersexuelle nach ihren Gefühlen befragt wurden. Er stieß eine Tür auf. Dahinter war es zuerst schwarz, Christiane Völling wurde schwindelig.

Sie besorgte sich ihre Krankenakte.

Dass Christiane Völling immer wieder darum gebeten wird, ihre Geschichte zu erzählen, hängt auch damit zusammen, dass viele Menschen sie als Geschichte mit Happy End lesen. Christiane Völling ist zurück im richtigen Geschlecht. Sie hat ihren Personenstandseintrag beim Einwohnermeldeamt ändern lassen, die Patienten im Krankenhaus, in dem sie als Pflegerin arbeitet, sprechen sie mit "Frau Völling" an.

Und: Sie hat den Chirurgen, der sie damals kastrierte, verklagt. 100.000 Euro Schmerzensgeld hat ihr das Kölner Landgericht zugesprochen. Sie sei vor der Operation nicht ausreichend informiert worden, sagten die Richter. Es war ein bis dato beispielloser Prozess. Über all das hat Christiane Völling jetzt ein Buch geschrieben: "Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle".

Dass nun sie, die ihr Leben lang geübt hat, sich von den Menschen zurückzuziehen, weil Menschen es waren, die ihr sagten, so etwas wie sie gebe es nicht noch einmal in Deutschland, die sie schlugen und ihr nacktes Geschlecht fotografierten, dass Christiane Völling vorschlägt, einen Spaziergang am Rheinufer zu machen, zeigt, dass sich gerade etwas ändert. "Ich bin selbstbewusster geworden", sagt Völling. Als Frau werde sie weniger zur Seite gedrängt in der U-Bahn, mehr Menschen würden ihr ins Gesicht schauen.

Und doch – hier, an der Düsseldorfer Uferpromenade, sind alle versammelt: die Frauen mit spitzenbedeckten Kinderwagen, die Teenager, die miteinander kichern, die Kleinkinder, die auf sie zustolpern, Mackerjungs, die auf den Boden spucken, Mädchen im Bobschnitt, Jungs mit Pferdeschwanz, Pärchen, die sich küssen.

Die Unbeschwertheit, die Jugend, die Sexualität, die Eindeutigkeit, die Körperlichkeit.

Christiane Völling lebt in einer Welt, die sie kaputt gemacht hat und die ihr seitdem täglich zeigt, wie es aussieht, heil zu sein. Noch vor wenigen Jahren hat sie Sätze gesagt wie: "Es wäre besser, wenn ich als Kind gestorben wäre."

Am Jachthafen von Düsseldorf setzt sich Völling auf die Steintreppe und lässt ihre Füße von der hohen Stufe baumeln. Sie ist 1,56 Meter groß. Also eher klein. Es ist eine der Folgen ihrer Erkrankung, dem Adrenogenitalen Syndrom, einer vererbten Störung der Nebennierenrinde und der Tatsache, dass es so lange gar nicht oder falsch behandelt wurde. Ihr Körper kann nicht genug vom lebenswichtigen Kortison produzieren, die Vorstufen des Stoffes wandelt er in männliche Hormone um. Deshalb wurde sie mit vermännlichtem Genital geboren. Sie kam schon als Kleinkind in die Pubertät, war bei ihrer Einschulung größer als alle anderen, aber wuchs später nicht weiter.

Der erste Arzt, der ihr sagte, sie sei kein richtiger Junge, benutzte die Worte: "Solche Menschen wie dich hat man früher auf dem Jahrmarkt ausgestellt." Das Monstergefühl, wie sie es nennt, hat sie seit diesem Satz ihr Leben lang begleitet.

"Wer das Schweigen bricht, bricht die Macht der Täter", sagt Christiane Völling. Sie hat diesen Satz von den Missbrauchsopfern geliehen. Lange haben Ärzte intersexuelle Kinder vorschnell operiert, in dem Glauben, es sei das Beste für ein Kind, so früh wie möglich eine klare Geschlechtsidentität zu haben. Eltern müssen eins der beiden Felder in der Geburtsurkunde ankreuzen. Männlich, weiblich.

Sie will Thomas behalten

Unter dem Druck der Frage, was es denn sei, stimmen viele von ihnen Operationen zu. Studien zur Behandlungszufriedenheit von Intersexuellen zeigen, dass eine große Zahl von ihnen durch falsche Geschlechtszuweisungen traumatisiert ist. "Jeder Mediziner kann rumpfuschen, wie er will, solange die Richtlinien nicht verbindlich sind. Das ist doch der Knackpunkt", sagt Christiane Völling.

Intersexualität kann in den Genen, dem Hormonhaushalt oder den Organen unterschiedlichste Gründe haben. Aber die allermeisten intersexuellen Menschen könnten körperlich unversehrt bleiben, sie sind nicht krank, sie passen nur nicht genau in eine der beiden Kategorien, in denen in der Gesellschaft gedacht wird: Mann oder Frau.

Oder.

Zwischengeschlechtlich zu leben, offiziell intersexuell zu sein, das ist gesetzlich in Deutschland nicht möglich. Gerade hat die Grünenfraktion einen Antrag im Bundestag eingebracht, der fordert, im Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde sollte es eine dritte Möglichkeit geben.

Christiane Völling kennt mittlerweile Kinder und Jugendliche, die über ihre Intersexualität sprechen wie andere über Diabetes oder einen Herzschrittmacher. Selbstverständlich und ohne Scham. Sie haben Eltern, die sie so bleiben ließen, wie sie sind, die ihnen gegenüber offen waren, Fragen beantworteten, Sicherheit ausstrahlten. "Es ist eine andere Zeit", sagt Christiane Völling. Aber noch keine Normalität. "Das Thema müsste an jeder Schule im Unterricht vorkommen."

Die Treppen zum Jachthafen hin, auf denen Christiane Völling sitzt, wirken jetzt wie ein Amphitheater, eine Arena. Und sie hält dort einen Vortrag. Sie redet nicht leise, versteckt sich nicht. Hört vielleicht sogar jemand derjenigen, die hier mit geschlossenen Augen auf dem Stein liegen, ihr gerade zu?

Woher kommt diese Kraft nach alledem? "Das ist nur Wut", sagt sie. Es brauche mehr Aufmerksamkeit für das Thema, mehr Diskussionen. "'Mein Leben als Zwitter' hätte die Unterzeile zum Buch heißen sollen", sagt Christiane Völling. "Dann würden die Leute gleich kapieren, worum es geht." Sie würden es nicht mehr mit Transsexualität verwechseln. Aber so weit sei sie erst seit einer Woche, seit der letzten Lesung.

Diese Lesungen sind etwas Besonderes für Christiane Völling. Weil sich hier Thomas und Christiane treffen.

Sie wollte Thomas loswerden, anfangs, aber dann hat sie festgestellt, dass das so nicht funktioniert. Wenn Christiane Völling davon redet, spricht sie von sich selbst in der dritten Person.

"Christiane ist nur am Heulen. Empfindlich, wie ein kleines Mädchen", sagt sie "Thomas ist stark, der packt das."

"Bei den Lesungen muss ich aufpassen, dass ich nicht allzu viel Christiane da reinbringe, sonst sitzt die da vorne vor dem Publikum und fängt an zu heulen, da muss ich haarscharf aufpassen. Da muss schnell die Sachlichkeit wieder her, der Thomas, der sagt: Jetzt liest du weiter, das kennst du doch alles, das hast du schon zwanzigmal gehört und gelesen, was soll das jetzt?"

Thomas und Christiane sollen zusammenwachsen. "Christiane schafft das da vorne allein mit Sicherheit nicht, das geht nicht, da muss der Thomas ran. Da muss Thomas mit Christiane ran, Thomas als Christiane."

Thomas ist die Wut. Christiane – das sind die kleinen Grübchen um ihre Augen. Wenn Christiane Völling lacht, wird die Linie ihrer Wangen rund und weich.

Es dauert ein bisschen, ein paar Stunden, aber dann spricht Christiane Völling von Dingen, die sie geschafft hat. Nicht so sehr von dem Prozess, den Artikeln in großen Zeitungen. Stolz ist sie darauf, dass sie jetzt den Kajalstrich schafft, die Ohrringe, die schulterlangen Haare, den rosa Anorak. Alles Revolutionen. "Meilensteine der Weltgeschichte", sagt sie. Etwa so wie sich Neil Armstrong auf dem Mond gefühlt haben müsse.

Das Ziel für 2011: der erste Rock

Auf dem Rückweg durch die Fußgängerzone von Düsseldorf hält ein Mann Menschen für eine Umfrage an. "Einen Moment, die beiden Damen", sagt er. Es ist kein Zögern in seiner Stimme. Warum sollte er auch zögern?

Und am Ende, in der Fußgängerzone zwischen Parfümerie und Modeboutique, fallen Christiane Völling auch Projekte ein, nächste Schritte, Gründe, weiterzumachen. Die geblümte Bluse aus dem Schaufenster war so ein Projekt. Ein Ziel für 2011 könnte der erste Rock sein. "Oder eine tolle Strumpfhose", sagt sie.

Das, was Christiane Völling noch fehlt zu ihrem Comeback auf den Straßen von Düsseldorf, ist eine Freundin. Jemand der Geduld hat, gern spazieren geht, sich mit ihr am Japantag am Rhein Kimonos anschaut. "Christiane braucht einen Arschtritt", sagt sie. Jemanden, der mal anruft und sagt: Heute gehen wir ins Museum.

Solche Menschen gibt es doch bestimmt, oder?

Christiane Völling: "Ich war Mann und Frau. Mein Leben als Intersexuelle", 256 Seiten, Fackelträger Verlag

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