Schizophrenie: Die Mutter ist nicht schuld
In der Psychoanalyse war man lange sicher, dass Schizophrenie an der Mutter liegt. Wie ein Anruf diese These ins Wanken brachte.

A ls Eleanor Owens im August 1978 im US-Bundesstaat Washington ihre Zeitung aufschlug, las sie dort von einer schrecklichen Tat. Ein junger Mann hatte ein Seniorenpaar getötet. Er litt an Schizophrenie und befand sich in einem Wahnzustand.
Für Owens ein Déjà-vu. Ihr eigener Sohn, der auch an Schizophrenie litt, hatte ein Jahr zuvor ein ähnliches Verbrechen begangen. Sie erinnerte sich, wie schlecht es ihr danach ging. So erzählt es Owens 2011 in einem Interview mit der Seattle Times.
In dem Moment beschloss sie, etwas Ungewöhnliches zu tun. Sie suchte im Telefonbuch die Nummer der Eltern des jungen Mannes und rief sie an.
Es war ein Schritt gegen die Gefühle von Scham und Schuld. Denn die damals vorherrschende Theorie zur Ursache von Schizophrenie erklärte die Erkrankung mit der sogenannten „schizophrenogenen Mutter“. Der Grundgedanke: Mütter, die angeblich streng, ablehnend, lieblos, dominierend oder überbehütend waren, setzten ihre Kinder einem enormen psychischen Druck aus. So blieb den Kindern angeblich nur noch die Flucht in Wahnvorstellungen und Fantasien.
Der Anfang vom Ende des Mutter-Blaimings
Das Problem war nur: Die Theorie war falsch.
Bis die Öffentlichkeit das erkannte, dauerte es bis Mitte der 80er Jahre. Dabei lieferte die Wissenschaft schon lange zuvor Hinweise, dass neben traumatischen Erfahrungen auch genetische Faktoren das Risiko für Schizophrenie erhöhen und die Krankheit mit Unregelmäßigkeiten im Dopaminhaushalt einhergeht. Trotzdem hielten Psychoanalytiker*innen noch lange an der „Mütter-Theorie“ fest.
Die Wende begann mit dem Anruf von Eleanor Owens bei der Familie des kranken Täters. Am Telefon drückte sie ihnen ihr Mitgefühl aus. Sie bot ihre Unterstützung an. Und sie animierte andere Familien mit schizophrenen Angehörigen, es ihr gleichzutun.
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Aus der Gruppe entwickelte sich die National Alliance on Mental Illness (Nami). Gemeinsam kämpften sie für die Destigmatisierung von schizophrenen Menschen und ihren Familien.
Müttern, deren Kinder heute mit Schizophrenie diagnostiziert werden, wird nicht mehr die Schuld für die Krankheit zugeschoben. Dass das so ist, liegt auch an der jahrzehntelangen Arbeit von Angehörigen wie Eleanor Owens.
Wie beginnt Veränderung? In der Kolumne „Der Anstoß“ erzählen wir jede Woche von einem historischen Moment, der etwas angestoßen hat.
Nur wenige Jahre später führte ihre Arbeit zu einer Dokumentation im öffentlich-rechtlichen US-Fernsehen, die über neurobiologische Ursachen von Schizophrenie aufklärte. Der Anfang vom Ende des Mutter-Blaimings war gekommen.
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