Schriftsteller Chaim Noll über Juden in der DDR: "Die Dresscodes des Systems"

In der DDR geriet Chaim Noll auf der Suche nach seinen jüdischen Wurzeln mit dem Staat in Konflikt. Sein neu aufgelegter Wenderoman "Der goldene Löffel" beschreibt die zerfallende DDR-Gesellschaft.

Der Roman aus dem Jahr 1989 wurde zum 20-jährigen Jubiläum neu aufgelegt. Bild: verbrecher verlag

taz: Herr Noll, Sie tragen eine Kippa.

Chaim Noll: Ich habe für alle Fälle immer eine Mütze in der Tasche, aber ich brauche sie nicht aufzusetzen. Neulich bin ich mit Tifosi - wie sagt man das auf Deutsch? - im Zug gefahren.

Fußballfans, Hooligans?

Chaim Noll wurde am 13. Juli 1954 als Hans Noll in Berlin geboren. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte in Ostberlin. Er verweigerte den Wehrdienst und verließ bald darauf, 1983, die DDR. In seinem autobiografischen Roman "Der goldene Löffel" beschrieb Noll sein Leben als junger Mann im Herzen des Systems und seine zunehmende Entfremdung von einer Gesellschaft, in der jede Emotion kontaminiert war. Nolls drittes in der Bundesrepublik veröffentlichtes Buch ist das Sittengemälde eines untergehenden Landes. Als es im September 1989 erschien, blieben nur wenige Wochen, bevor es von den Ereignissen, die es prophezeit hatte, überholt wurde. Der Berliner Verbrecher Verlag hat diesen erhellenden Roman nun wieder veröffentlicht. 2008 erschien dort sein historischer Roman "Der Kithara-Spieler".

Die stiegen in Pirna ein. Und da war es den anderen Fahrgästen dermaßen peinlich, als ich meinen Hut aufsetzte, um die Kippa zu verdecken. Die sagten in breitem Sächsisch: "Also, Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen, wir sind auch noch hier!" Das war ganz angenehm.

Sie sind in der DDR aufgewachsen. Nicht in einem jüdischen Haushalt, sondern als Sohn des von Lesern und Partei gleichermaßen geschätzten Schriftstellers Dieter Noll. Seine Bücher waren Schullektüre.

Ich habe sehr viele jüdische Autoren jeglicher Art - von Marxisten bis zu Konservativen - gelesen. Ich wusste nicht genau, was jüdisch sein heißt, aber es hat mich immer interessiert. Dieses Interesse musste ich gegen Widerstände von außen durchsetzen. Man hat mir natürlich ausreden wollen, dass es überhaupt so was wie jüdisches Denken gibt - das gab es nicht in der DDR. In der DDR wurden ein paar Bücher jiddischer Volksschriftsteller aus Osteuropa veröffentlicht und natürlich die Werke unserer Genossen Arnold Zweig, Anna Seghers, Friedrich Wolf und wie sie hießen. Die waren jüdisch von Geburt, aber jetzt sozialistische Schriftsteller. Auch mein Vater hat sich immer als sozialistischer Schriftsteller verstanden.

Wie ging die DDR mit dem Judentum um?

Die Verfolgung "zionistischer Verbindungen" und "Aktivitäten" während der frühen Jahre der DDR schüchterte viele jüdische Intellektuelle ein und brachte sie dahin, ihre jüdischen Wurzeln zu verleugnen. Es gab bis 1987 keinen Rabbiner und keinen Mohel, zum Judesein unerlässliche Rituale wie Beschneidung und Bar-Mizwa wurden verhindert. Falls es zu einer jüdischen Hochzeit kam - mir ist nur ein einziger Fall bekannt -, wurde ein Rabbiner aus dem Ausland geholt. Der in der DDR politisch korrekte Weg, über Juden zu schreiben, war ihre Darstellung als Opfer während der NS-Zeit. Es war daher schon ein Aufstand an sich, wenn man überhaupt im Jüdischen eine Identität suchte. Mit den Jahren haben wir das immer intensiver gefühlt, aber da es keine Literatur zum Thema gab und keine richtigen jüdischen Gemeinden, blieb es etwas ungefähr. Erst als wir 1983 in den Westen kamen, konnten wir anfangen zu lernen und den Talmud wenigstens in einer deutschen Übersetzung lesen.

Was hat Sie daran interessiert?

Die jüdische Religionsgeschichte fand ich zunehmend faszinierend. Das rabbinische Judentum hat es geschafft, dieses eigentlich vom Untergang bedrohte Volk 2.000 Jahre lang zusammenzuhalten. Andere Völker sind in der römischen Sklaverei einfach untergegangen, die Juden nicht. Auch nicht in den 2.000 Jahren Verfolgung und Heimatlosigkeit. Das ist die große kulturgeschichtliche Leistung der Rabbiner - das darf man nie vergessen. In Europa hat sich dafür lange niemand interessiert. Erst heute beginnt man zu verstehen, dass die rabbinischen Denkmethoden und die enorme Konzentration geistiger Leistung, die in ihnen steckt, dann eben auch Juden, die dieses geistige System verlassen haben, befähigt hat, auf ganz anderen Gebieten - Medizin oder Atomphysik oder Psychoanalyse, moderne Literatur oder wo immer - große Denkleistungen zu vollbringen. Das ist das Erstaunliche: Die Geistesschärfe, die sich dieses in der Diaspora zerstreute Volk über Jahrhunderte eintrainiert hat, um zusammenzubleiben. Das ist eine einzigartige Leistung in der Weltgeschichte, wie immer man sonst zu orthodoxen Juden und Rabbinern stehen mag.

Es war aber nicht nur Ihr Interesse für das Judentum, das Sie zunehmend in Konflikt mit der Staatsmacht gebracht hat?

In Konflikt mit der Staatsmacht haben uns innere und äußere Entwicklungen gebracht. Mein Interesse für das Judentum gehörte zu den inneren. Darüber konnte ich sowieso zu niemandem sprechen außer zu meiner Frau und ein, zwei Freunden. Zu den inneren Gründen gehörte auch, dass man sich nicht artikulieren durfte. Man lebte in einer Verfallsgesellschaft, die aber keine sein durfte. Es war offiziell eine fortschrittliche und blühende sozialistische Gesellschaft. Das war das Absurde: dieser sich vertiefende Riss zwischen der offiziellen Selbstdarstellung und der Realität. Die Realität war, dass wir in einer verfallenden, sich auflösenden Gesellschaft lebten - das war überall zu spüren.

Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.

Die Selbstdarstellung war hochgemut bis zum Schluss. Die DDR war seit den 70er-Jahren bankrott, dennoch wurde behauptet, der Plan sei übererfüllt. Aus einer solchen Absurdität kann sich ein Künstler - oder überhaupt ein kreativer Mensch - nur retten, indem er das artikuliert. Wenn dann aber noch ein Verbot jeglicher Äußerungen hinzukommt, wenn dann noch geboten ist, nur in vorgeschriebenen Bahnen zu schreiben, zu forschen, zu malen, Theater zu machen - das war einfach nicht mehr auszuhalten.

Und die äußeren Gründe?

Zu den äußeren Gründen gehörte vor allem, dass ich 1980 in der DDR den Wehrdienst verweigert habe, weil ich nicht in einer Armee dienen wollte, die ich für unmenschlich hielt. Das hat dann unsere Verstoßung aus der DDR-Gesellschaft sehr beschleunigt.

Wie hat Ihr Vater auf Ihre Entwicklung reagiert?

Wir haben über diese Fragen irgendwann nicht mehr gesprochen. Mein Vater war bis zum Schluss systemtreu. Es gehört zu den Verrücktheiten des Lebens in der DDR, dass wir darüber nicht sprechen konnten. Ich vermute, er hat sehr unter meiner Entwicklung gelitten. Wie ich unter seiner. Wir haben darüber erst sprechen können, als es zwanzig Jahre zurücklag, kurz vor seinem Tod.

Ihr Vater war ein anerkannter Schriftsteller. War das ein Problem für Sie beim Schreiben?

Nein. Wir sind nie in Konkurrenz zueinander getreten. Ich habe in der DDR nie etwas veröffentlicht, sondern nur für die Schublade geschrieben. Mir war von Anfang klar, dass ich dort nichts veröffentlichen kann. Alles, was ich schrieb, war von einer Art, dass es dort nicht erscheinen konnte. Dass es mich sogar - wie mir allmählich klar wurde - ins Gefängnis bringen würde. Heute kann sich kaum noch jemand vorstellen, wegen welcher Bagatellen man in der DDR ins Zuchthaus gekommen ist.

Sind Sie beobachtet worden?

Meine Lage wurde langsam gefährlich, weil ich auf einer Reise in die Sowjetunion, die ich als Meisterschüler der Akademie der Künste machen konnte, Tagebuch führte. Auf solchen Reisen waren immer Beobachter von der Stasi oder vom KGB dabei, als Dolmetscherin getarnt oder ähnlich. Und diese Beobachter meldeten dann: "Er schreibt ständig irgendwas." Die Manuskripte, die auf diese Weise entstanden, versteckte ich im Atelier meiner Frau. Eines Tages vergaß ich dort meine Handschuhe, kehrte um und traf zwei Männer, die gerade versuchten, die Tür aufzubrechen. Sie haben schnell bei dem alten Rentner nebenan geklingelt, ihn in seine Wohnung geschubst und die Tür zugemacht. Sie hatten offenbar Anweisung, es zu keiner Konfrontation kommen zu lassen. Daraufhin haben wir angefangen zu überlegen, wie können wir die Manuskripte aus dem Land schaffen und wie kommen wir selbst mit den Kindern hier raus.

1983 haben Sie die DDR verlassen, im September 1989 ist Ihr autobiografischer Roman "Der goldene Löffel" erschienen. Es war ein Abgesang auf den real existierenden Sozialismus, in dem Sie Völkerwanderungen prophezeit haben, die dann auch bald eingetreten sind. Welche Botschaft wollten Sie vermitteln?

Zum Ersten, dass es zu Ende ist mit der DDR. Als ich mit dem Buch anfing, war das noch nicht klar. Bis in den Sommer 1989 glaubten ja viele, auch im Westen, dass das ewig noch so weitergeht. Die Regierung Kohl hat durch ihre Geldzahlungen das Regime unnötigerweise bis zum Schluss gestützt. Wenn es nicht so viel Unterstützung aus dem Westen gegeben hätte, wäre das schneller kaputtgegangen. Zum Zweiten war es der Versuch, psychologisch glaubhaft zu machen, was da eigentlich mit den Menschen passiert. Dass sie letztendlich alle Opfer dieses Systems werden, von oben bis unten, durch sämtliche Schichten hindurch. Dass ein starker Leidensdruck bestand in der DDR. Dass diese Sache nicht mehr funktionierte und immer unmenschlichere Züge annahm.

Was in Ihrem Buch oft zur Sprache kommt, ist der pathologische Ordnungswahn der deutschen Sozialisten. War das eine sehr prägende Erfahrung?

Der DDR-Sozialismus war besonders bedrückend - und vergleichsweise mit anderen Ostblockländern eben durch dieses Mitläufertum, dieses Duckmäusertum, diese Spießigkeit noch verschärft. Wir fuhren nach Polen oder nach Ungarn, um Luft zu schnappen, weil es dort auch mal eine abweichende Meinung gab, während bis zu einem gewissen Zeitpunkt in der DDR weitgehend eine geistige Öde herrschte. Ich sag das mal unter Vorbehalt, weil es natürlich auch Kreise gab, die ich nicht kannte. Und das änderte sich dann mit den Bürgerrechtlern und brach auf im Laufe der 80er-Jahre. Aber das Gros der Bevölkerung hat sich eben doch an die Spielregeln des Systems gehalten.

Maxim Biller hat die "Ossifizierung des Westens" beklagt. Er regt sich über die nachträgliche Verherrlichung des DDR-Opportunismus auf.

In gewisser Weise kann ich das nachvollziehen. Wir haben unter der Mentalität der DDR sehr gelitten, schon als Kinder. Die Atmosphäre war von großer Kleinbürgerlichkeit, in einer unguten Weise, die dann auch zugleich mit etwas Brutalem verbunden war - gegen jeden, der nicht von dieser Art war.

Wie äußerte sich das?

Es war im Grunde alles verboten. Ich habe die ganze Schulzeit über erlebt, wie Jugendliche von der Erweiterten Oberschule religiert wurden und kein Abitur machen konnten, weil sie einen Bart oder lange Haare oder ein bestimmtes Kleidungsstück trugen, das aus irgendwelchen Gründen auf der Liste der Partei als provokatorisch registriert war. Das waren in den 50er-Jahren Ringelsocken, später war es ein Parka. Wegen solcher Bagatellen, weil jemand gegen irgendeinen dieser Dresscodes des Systems verstieß, wurden Existenzen zerstört.

Und die Intellektuellen?

Diese halbkritischen Intellektuellen und Schriftsteller, die es in der DDR gab, gingen auf eine eher heuchlerische Weise mit dem System um. Ich habe zum Beispiel sehr stark Christa Wolf kritisiert vom Westen aus. Sie wurde ja im Westen groß gehandelt als authentische Stimme. Und war natürlich alles andere als das. Es war dieser halbkritische Ansatz von Leuten wie ihr, der letztlich das System affirmierte.

Viele der Kritiker nicht nur innerhalb der DDR haben bis zuletzt an ihre Reformierbarkeit geglaubt.

Wir sind ja alle angetreten in der Hoffnung, es von innen ändern zu können. Ich habe mal einen Abend mit Bürgerrechtlern von drüben erlebt, da saßen am Tisch Bärbel Bohley, Jürgen Fuchs, Lutz Rathenow und andere - und da stellten wir plötzlich fest, dass wir alle mal in der Partei gewesen waren. Wir sind da alle eingetreten als junge Leute, in der Hoffnung, wir können das von innen verbessern. Und dann haben wir gelernt, dass das völlig unmöglich war. Dass so kleine Ansätze der Beweglichkeit immer wieder zerstört wurden von den Betonköpfen, die sich letztendlich durchsetzten. Aber zum Schluss waren viel Antikräfte in diesem Staat. Das war dann auch für mich nicht überraschend, als die zu zehntausenden auf die Straße gingen.

Es gibt in Ihrem Roman "Der goldene Löffel" ein zerstrittenes Geschwisterpaar, die eine ist eine überzeugte Sozialistin, die andere eine überzeugte Kapitalistin. Man kann Ihren Roman als deutsche Familiengeschichte lesen.

Eindeutig, das war eine zerstrittene, zerbrochene Familie. Wir hier in Berlin haben das ja besonders deutlich gemerkt. Auf welcher Seite man sich am 13. August 1961 befand, bestimmte die Biografien. Ich habe genug Streitigkeiten zwischen den Tanten - die eine hier, die andere dort - bei Familienfesten erlebt. Die sich gegenseitig vorhielten, dass ihr System unmenschlich sei: "Ihr seid gewinnorientiert und profitsüchtig!" - "Und ihr achtet die Menschenrechte nicht!"

Seit 1995 leben Sie in Israel. Von außen betrachtet: Worin unterscheidet sich Deutschland heute vom Deutschland der Achtzigerjahre?

Es ist eine Entwicklung zum Besseren, eindeutig. Für beide Teile. Auch die Westdeutschen haben unter der Teilung so weit gelitten, dass sie die ganze Zeit mit einer schwelenden Krankheit leben mussten. Ich sehe heute auch nicht so einen großen Unterscheid in den Mentalitäten in Ost und West, wie das jemand, der hier im Land lebt, vielleicht empfindet. Das traf vor zwanzig Jahren zu, vielleicht auch noch vor zehn, aber mit jeden Tag wird das weniger. Auch die DDR-Bürger haben ja die Welt 20 Jahre bereisen können, sind unterwegs gewesen. Und sie leben jetzt mit Fremden. Die DDR war eine fremdenlose Gesellschaft. Es gab zwar ein paar arme Gastarbeiter aus Kuba oder so, die lebten dann verschüchtert in einem Wohnheim, unter der Aufsicht ihres Parteisekretärs. Das hat die DDR-Bürger enorm verändert. Mir selbst ist Deutschland heute sehr viel angenehmer als vor 20 Jahren. Und ich bin gar nicht so sicher, ob meine Frau und ich heute noch die Energie aufbringen würden, wegzugehen. Man braucht ja aversiven Schub, der einen in Bewegung setzt. Heute könnte ich als Jude auch in Berlin, in Dresden, München oder Hamburg ganz normal leben, ohne Probleme.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.