Schule: Die Vielfalt muss ins Mathebuch

An der Nürtingen-Grundschule in Kreuzberg will man mithilfe des Bundesmodellprojekts "Nürtikulti" Diskriminierung überwinden. Dazulernen können dabei alle Beteiligten.

So gleichförmig sieht es in Berlins Klassenzimmern schon lange nicht mehr aus. Bild: DPA

Im Eingangsbereich der Nürtingen-Grundschule sitzen vier Jungen und lösen Matheaufgaben. Dabei plaudern die Acht- bis Neunjährigen – über Mädchen. Zu jedem Namen, der genannt wird, fällt ihnen Kritisches ein: Süheyla ist zu groß, Lale zu laut, Jule zu dünn. Am Ende kommen sie trotzdem zu einem positiven Urteil: Alle Genannten, so ihr Fazit, seien „total nett“.

Zwei Tage lang geht es ab Donnerstagabend (31. 10.) beim Symposium "Diskriminierung an Berliner Schulen: Von Rassismus zu Inklusion" um strukturelle Benachteiligung von SchülerInnen mit Migrationshintergrund im hiesigen Bildungssystem. Die Tagung, die Problembewusstsein schaffen und Handlungsempfehlungen formulieren will, wird vom Berliner Migrationsrat und der New Yorker Open Society Justice Initiative veranstaltet.

Auftakt ist am Donnerstag um 19 Uhr im Rathaus Schöneberg. Dort geht es am Freitag ab 9 Uhr mit Panels und Workshops weiter. Themen sind unter anderem Empowerment gegen rassistische Diskriminierung sowie die Menschenrechte und das Schulgesetz. Erwartet werden zu der Veranstaltung unter anderem Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD), die Diversity-Professorin Maisha Eggers und Beate Rudolf, die Leiterin des Deutschen Instituts für Menschenrechte. (akw)

Vielfalt erkennen, anerkennen und positiv in den Schulalltag integrieren – das ist Programm in der Grundschule am Kreuzberger Mariannenplatz. „Nürtikulti“ wurde das Projekt getauft, das Diversity-Kompetenz an der Schule verankern soll. Den Namen hätten die SchülerInnen ausgewählt, erzählt Schulleiter Markus Schega.

Und Vielfalt ist an seiner Schule schon seit Jahren reichlich vorhanden: nicht nur wegen der vielen verschiedenen Muttersprachen der Kinder, von denen knapp jedes zweite aus Einwandererfamilien stammt. Das bringt auch religiöse Vielfalt mit. Als Inklusionsschule nimmt die Schule Kinder mit Behinderungen auf, und außerdem liegt sie in einem ärmeren Kiez, in den zunehmend wohlhabende Familien ziehen. Dass die Schule einige Montessori-Klassen pro Jahrgang anbietet, hat zudem zu einer internen Segregation geführt: Kinder aus bildungsorientierten, wohlhabenderen Familien besuchten die Spezialklassen, die weniger privilegierten die anderen.

„Als ich die Leitung der Schule vor vier Jahren übernahm, gab es hier eine homogene weiße Mittelschichtelternvertretung – und Eltern aus anderen Milieus, die dagegen protestierten“, erzählt Schega. Eigentlich keine Seltenheit an Berliner Grundschulen. Doch Schega war überzeugt: „Ihr Vorwurf, dass die Schule Kinder deutscher Herkunftssprache aus bildungsbürgerlichen Milieus bevorzuge, war zum Teil richtig.“

Der erfahrene Lehrer, der zuvor lange an anderen Kreuzberger Schulen gearbeitet hatte, wollte der Diskriminierung nicht nur mit ein paar Diversity-Trainings für die PädagogInnen und einem Theaterprojekt für die Kinder begegnen. Er wollte dem Übel an die Wurzel – und eine Schule, an der Vielfalt nicht nur ausgehalten, sondern geschätzt wird. Gemeinsam mit dem „Mobilen Beratungsteam Ostkreuz“ (MBT) der sozialpädagogischen Berliner Stiftung SPI entstand ein Konzept, dessen Ansatz und Umfang für ein Schulprojekt geradezu gewagt sind: drei Jahre und drei (Teilzeit)-Stellen umfasst Nürtikulti. Vom Familienministerium wird es als Bundesmodellprojekt finanziell gefördert.

Geradezu luxuriös

„Aus Projektsicht haben wir eine geradezu luxuriöse Situation“, sagt eine der drei MBT-ExpertInnen, die Politologin Ann-Sofie Susen: „So lange an einer Schule arbeiten zu können ist toll, aber auch eine Ausnahme.“ Die gab dem Nürtikulti-Team Zeit für eine gründliche Bestandsaufnahme an der Schule, deren Ergebnisse in einer Lenkungsgruppe aus dem Team, der Schulleitung sowie Erzieher- und LehrerInnen immer wieder diskutiert wurden, um passende und umsetzbare Maßnahmen zu entwickeln.

Die waren umfassend: Diversity-Trainings gehörten zum Pflichtprogramm für alle MitarbeiterInnen der Schule. Zusätzliche freiwillige Fortbildungsveranstaltungen beleuchteten Ursachen diskriminierender Ungleichbehandlung: In einer hätten etwa muttersprachlich deutsche ErzieherInnen gelernt, wie die türkische Sprache aufgebaut ist, erzählt der Hortleiter der Nürtingen-Schule, Michael Palmer: „Das hat ihnen ermöglicht, sich in ein muttersprachlich türkisches Kind hineinzuversetzen, das einen im Deutschen merkwürdigen Satz bildet.“ Letzteres werde schnell „mit sozialen Kategorien und Intelligenz konnotiert“, weiß Palmer, aber „diese Verbindung kann man auflösen, wenn man weiß, wie die andere Sprache funktioniert: Man erkennt plötzlich statt einer Minderbemittlung eine intellektuelle Leistung in einem kruden Satz.“

Zwei Künstlerinnen, Claudia Hummel und Annette Kraus, stellten in einer Fortbildung für LehrerInnen ihre Analysen von Mathebüchern vor – und zeigten, wie auch das „neutralste Fach der Welt“ in Themenstellung und Textaufgaben Familienbilder, Geschlechterrollen oder Klischees typisch deutscher Freizeitgestaltung transportiert, die der heutigen gesellschaftlichen Vielfalt weit hinterherhinken. 25 TeilnehmerInnen kamen zu der mehrstündigen Veranstaltung, darunter auch Lehrkräfte von Brandenburger Schulen. Als Modellprojekt soll Nürtikulti über die einzelne Schule hinaus wirken: indem Erfahrungen an Schulbuchverlage und andere Schulen vermittelt werden.

An der Nürtingen-Schule schloss sich an die analytische Bestandsaufnahme eine intensive Begleitung der PädagogInnen durch das MBT an. Ann-Sofie Susen und ihre Kollegen Ibrahim Gülnar und Rufus Sona arbeiteten in Teams eng mit LehrerInnen und ErzieherInnen zusammen: Susen und Gülnar mit jeweils einer Lehrkraft, Sona im ErzieherInnenteam des Horts. Für alle Beteiligten eine neue Erfahrung: „Es war nicht immer ganz leicht, unsere Rollen zu finden“, erzählt Susen. Doch die Befürchtung, nun komme eine Art „Rassismuspolizei“, die immer alles besser wisse, sei aufseiten der LehrerInnen nicht spürbar gewesen. Im Gegenteil: Selbst der langjährige Lehrer Karl-Heinz Reus, mit dem Susen ein Team bildete, fand die Reflexion mit der Coteacherin „sehr gewinnbringend“. Ein neuer Blickwinkel sei damit an die Schule gekommen: „Wir haben genauer betrachtet, welche Haltung hinter unseren Handlungen steckt.“

Für Reus, Sonderpädagoge und Montessorilehrer, war das Nürtikulti-Projekt ein Erfolg – und äußerst notwendig. Denn, so der Lehrer, wer nicht sehen wolle, dass es auch an Schulen Diskriminierung gebe, müsse blind sein: „Es geht aber darum, als Pädagoge vorurteilsbewusst zu agieren. Das kann man lernen.“

Über 80 Prozent der Erzieher- und LehrerInnen der Schule hatten für das Projekt gestimmt, erzählt Schulleiter Schega: „Der Rest hat sich enthalten, dagegen war niemand.“ Dass es im Kollegium aber auch Unverständnis und Widerstand gab, ist für Schega notwendiger Teil des Modellprojekts: „Es ist ja auch schmerzhaft, diskriminierende Seiten an sich selbst zu sehen, zu sehen, dass einem auch rassistische Gedanken kommen oder man sich unfair verhält. Aber das gehört zum Lernprozess dazu, damit muss man sich auseinandersetzen.“ Niemand könne von sich sagen, völlig vorurteilsfrei zu sein: „Ohne Vorurteile kommt man ja gar nicht zurecht im Leben. Aber man muss gucken, welche schädlich sind.“ Wichtig sei es, Vorurteile etwa gegenüber Eltern „zu erkennen und dann darüber hinwegzusehen, um trotzdem gut zusammenzuarbeiten, im Interesse des Kindes“.

Intensive Begleitung

Anfang kommenden Jahres läuft das Modellprojekt aus. Die an der Nürtingen-Schule gesammelten Erfahrungen sollen mithilfe einer ausführlichen Dokumentation anderen zugänglich gemacht werden. Dass sich die Grundschule verändert hat, steht für alle Beteiligten fest. Worin diese Veränderung besteht, ist dennoch schwer zu beschreiben oder gar zu messen. „Es war toll, eine Klasse so intensiv begleiten und jedes einzelne Kind mit den dazugehörigen Elternteilen kennenlernen zu können“, sagt Nürtikulti-Coteacher Ibrahim Gülnar. „Das hat sehr viele Erkenntnisse darüber ermöglicht, wie man Diversity umsetzt. Für mich ist das jetzt eigentlich nichts anderes, als Chancengerechtigkeit herzustellen.“

Für die Horterzieherin Isill Güney waren vor allem die vielen kritischen Diskussionen mit dem Nürtikulti-Team ein Gewinn: „Da war einfach Zeit, Raum, Rahmen und Licht. Das hat unseren Blick geschärft. Wir wurden alle zu Spezialisten gemacht.“ Diese Diskussionskultur will die Schule erhalten. „Das Nürtikulti-Team mit seinen gesammelten Erfahrungen wird uns als ,kritischer Freund‘ aber fehlen“, bedauert Schega. Sein Traum: Netzwerke aus mehreren Schulen, die von Diversity-ExpertInnen betreut werden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.