Schwangerschaftsabbruch in Deutschland: Weite Wege

Im Westen Niedersachsens müssen Frauen weit fahren, um eine Schwangerschaft abzubrechen. Ministerin Carola Reimann (SPD) leugnet das Problem.

Ein Demo-Schild mit der Aufschrift "150km zum nächsten Schwangerschaftsabbruch? Weg mit §219".

Viele Frauen wollen die weiten Wege zur Abtreibungsklinik nicht hinnehmen Foto: dpa

BREMEN taz | Ungewollt Schwangere haben ein Problem. „Wir haben zweifelsohne Versorgungslücken in Deutschland“, sagte Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) vor zwei Wochen in der Talkshow von Anne Will – Titel „die neue Debatte über Abtreibungen“. Und sie bekräftigte: „Das ist ein Riesenfeld, bei dem wir etwas tun müssen.“

Bekannt ist das seit genau zwei Jahren. Damals hatte die taz diese deutschlandweiten Lücken aufgedeckt. Eine von ihnen befindet sich im Westen Niedersachsens. Dort müssen Frauen je nach Wohnort bis zu 150 Kilometer weit fahren, um eine Klinik oder eine Arztpraxis zu erreichen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführt. In den Landkreisen Emsland, Grafschaft Bentheim, Vechta, Cloppenburg und Diepholz gibt es nach Auskunft der staatlich anerkannten Beratungsstellen für Schwangerschaftskonflikte keine Mediziner*innen, an die sich ungewollt Schwangere wenden können.

Doch Niedersachsens Frauen- und Gesundheitsministerin Carola Reimann kann keine Lücke, wie sie ihre Parteifreundin, die Bundesfamilienministerin, benannt hat, in ihrem Bundesland erkennen. „Niedersachsen kann nicht gemeint gewesen sein“, sagt ihre Sprecherin der taz am Telefon. In einer Email schreibt sie: „Aus hiesiger Sicht besteht derzeit in Niedersachsen ein ausreichendes Angebot an ambulanten und stationären Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen.“ So gebe es „108 niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, die befähigt und grundsätzlich bereit sind, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen“. Wo diese ihren Sitz in dem flächenmäßig zweitgrößten Bundesland haben, verrät das Ministerium aber nicht.

Zudem sei „grundsätzlich in jedem Krankenhaus mit gynäkologischer Abteilung in Niedersachsen ein Schwangerschaftsabbruch möglich“. Das hatte Reimanns Ministerium vor zwei Jahren schon einmal behauptet – in einer Antwort auf eine Anfrage der FDP im Parlament.

Viele katholische Kliniken

Das ist deshalb eine verblüffende Aussage, weil allgemein bekannt ist, dass katholische Kliniken grundsätzlich keine Abtreibungen durchführen. In Niedersachsen gab es im April 2017 nach Auskunft des katholischen Krankenhausverbands Deutschlands 22 katholische Kliniken mit Gynäkologie-Abteilungen. Noch mehr hat nur Nordrhein-Westfalen.

Deshalb können Frauen in Niedersachsen gleich in mehreren Landkreisen nicht in die Klinik zum Schwangerschaftsabbruch. Und im katholisch geprägten Westen Niedersachsens sind auch die niedergelassenen Ärzt*innen nicht bereit, Abtreibungen zu machen. Nach taz-Recherchen gibt es vereinzelt Praxen, die ausschließlich bei eigenen Patientinnen gelegentlich Ausnahmen machen.

Wenn das Gesundheits- und Frauenministerium dennoch darauf besteht, dass es keine Probleme mit der Versorgung gebe, dann kann das nur bedeuten, dass es nicht mit den Trägern der staatlich anerkannten Beratungsstellen wie Pro Familia oder dem Diakonischen Werk redet.

„Berichte über Versorgungslücken“

Denn die wissen aus ihrer Beratungspraxis, wie weit die Wege in manchen Regionen sind und vor welche Probleme das Frauen stellt. Zum einen werden Fahrtkosten nicht übernommen, zum anderen müssen sie sich oft vor Mitwisser*innen offenbaren, weil die Praxis darauf besteht, dass sie in Begleitung zurückfahren oder weil Kinder untergebracht werden müssen.

Das Bundesfamilienministerium hingegen informiert sich offenbar aus erster Hand. „Uns liegen Berichte von Beratungsorganisationen über Versorgungslücken vor Ort vor“, schreibt Giffeys Pressestelle in einer Mail. Und: Man sei „intensiv mit Pro Familia in Kontakt“. Ein anderes Indiz sei die sinkende Zahl von Kliniken und Praxen, die beim statistischen Bundesamt als Meldestellen für Abbrüche registriert sind. Nach Recherchen der taz ist diese Zahl in den vergangenen 15 Jahren um mehr als 40 Prozent gesunken.

Wo genau Giffey die Versorgungslücken entdeckt hat, will ihr Sprecher allerdings auch nicht sagen. Denn dann würde sie definieren, was überhaupt eine Lücke ist. Damit wäre sie die erste seit den sieben Richtern und einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1993. Die hatten damals in ihrem Urteil über den Paragrafen 218 beschieden, es könne eine Hilfe in der Not sein, wenn die ungewollt Schwangere „für einen ersten Arztbesuch die An- und Rückreise – auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln – an einem Tag bewältigen kann“.

Angebote beim Nachbarn

Dieser Definition zufolge, nach der eine Tagesreise als zumutbar gilt, gibt es in Deutschland noch keine Versorgungslücken – und auf sie beziehen sich alle Gesundheitsministerien, die die taz zu dem Thema befragt hat. Wege von 100 Kilometern und mehr haben auch ungewollt Schwangere in Hessen, Bayern und Rheinland-Pfalz vor sich. Aber aus diesen Bundesländern kommt dieselbe Antwort wie aus Niedersachsen. Demnach besteht in allen Ländern ein „ausreichendes Angebot“ – diese Formulierung entstammt dem Schwangerschaftskonfliktgesetz.

Die Sprecherin von Niedersachsens Gesundheitsministerin verweist dann noch darauf, dass Niedersachsen als einziges Bundesland an gleich neun andere Länder angrenze. „Dieser geographische Vorteil führt zu einem Pendelverhalten in schnell erreichbare Orte, Städte oder Großstädte anderer Länder.“

Holland ist damit allerdings nicht gemeint.

So haben die Frauen im äußersten Westen Niedersachsens wenig davon, dass die Versorgung in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt um einiges besser als in Niedersachsen ist. Und in Münster, der nächstgelegenen größeren Stadt in Nordrhein-Westfalen, hört jetzt der letzte Arzt auf, der noch Abtreibungen gemacht hat. Einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin hat er nicht gefunden.

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