"Sechzig Lichter" von Gail Jones: Weltreisen voller Bilder

Die australische Schriftstellerin Gail Jones schildert ein Frauenschicksal des 19. Jahrhunderts und Fotografien so virtuos, dass man sie beim Lesen beinahe sehen zu können meint.

Nicht selten hat man so seine Schwierigkeiten mit Romanen von Literaturwissenschaftlern. Allzu informiert, allzu wissend geschrieben sind sie oft, diese Werke, mit denen ProfessorInnen sich und anderen beweisen wollen, dass sie nicht nur literaturkritische Texte, sondern auch echte, primäre und natürlich anspruchsvolle Literatur produzieren können. Gail Jones ist Dozentin für Englisch, Kulturwissenschaft und Kommunikation an der University of Western Australia - und das merkt man sofort: Ihre Romane folgen keinem banalen Spannungsbogen, sondern schweifen immer wieder ab und beglücken mit einmontierten Erzählungen, Versatzstücken und Anspielungen. Zudem spielen ihre Romane auf drei Kontinenten, sodass auch dem kulturwissenschaftlichen Interesse Genüge getan ist. Und auch Jones kommunikationswissenschaftliches Wissen kommt zur Geltung. Ein Großteil der Handlung ihres Romans "Der Traum vom Sprechen", der bislang nur auf Englisch vorliegt, kreist um die Erfindung des Telefons. Und das Medium der Fotografie steht im Zentrum von "Sechzig Lichter", ihres gerade ins Deutsche übersetzten Romans. Normalerweise kann eine derart penetrante Nutzbarmachung der Wissenschaft für die Literatur kaum gutgehen. Umso erstaunlicher und beeindruckender ist, was Gail Jones daraus macht.

Wir sind im 19. Jahrhundert. 60 Lichter sieht Lucy, als sie während des Lichterfestes im Monat Diwali auf einer Straße in Bombay zusammenbricht, weil die Geburtswehen einsetzen. Auf der Überfahrt nach Indien war Lucy dem verheirateten englischen Kolonialbeamten William Crowley begegnet, und so war Ellen entstanden. Prekärerweise war Lucy aber gerade unterwegs zu ihrem zukünftigen Ehemann Isaac, den ihr Onkel Neville für sie ausgesucht hatte. Besagter Onkel Neville wiederum war zum Vormund Lucys und ihres Bruders Thomas bestimmt worden und hatte die beiden Kinder von Australien nach London geholt, nachdem zuerst Mutter Honoria im Kindbett verstorben war und sich Vater Arthur im Anschluss an diesen Verlust das Leben genommen hatte - dieser hatte übrigens einen Teil seiner Kindheit in China verbracht. Man kommt ganz schön herum in diesem Roman.

Geschickt schildert Gail Jones die zentralen Verwicklungen. Isaac hatte mit einer erwachsenen Frau und nicht mit einer Teenagerin gerechnet, und so tun sich die beiden zunächst schwer miteinander. Aber auch Neville hatte es anfangs nicht leicht mit seiner Nichte und seinem Neffen, zwei Waisen, die aggressiv getrauert hatten. So behutsam, wie Jones die Annäherung zwischen Onkel und Kindern entwickelt hatte, so allmählich ergibt sich auch die Beziehung zwischen Lucy und Isaac, eine Beziehung, die so einmalig ist, weil sie sich jeder konventionellen Kategorisierung entzieht: Lucy ist schwanger von einem anderen, doch Isaac begleitet sie, aber nicht als Liebhaber. Sie schlafen in einem Bett, aber nicht miteinander. Sie scheinen sich zu lieben - nicht körperlich, doch auch nicht rein platonisch.

Bald nach der Geburt kehrt Lucy mit Ellen zurück nach London. Ihr Onkel Neville ist in der Zwischenzeit bei einem Unfall ums Leben gekommen, doch dafür hat Thomas seine Liebe gefunden. Lucy zieht Ellen groß, begegnet zufällig ihrem ehemaligen australischen Kindermädchen und findet kurzzeitig eine neue Liebe, bis sie schließlich, mit nur 22 Jahren, an der Schwindsucht, der klassisch weiblichen Krankheit der Viktorianischen Zeit, stirbt.

Denn Lucy verzehrt sich - die Bilder und Eindrücke, denen sie begegnet, gewinnen durch ihren Blick eine intensive Sinnlichkeit, sie entwickelt eine Ästhetik des Makels, die sie durch ihre Fotografie nährt und bewahrt. Eigentlich will man diese Fotografien sehen, und man wünscht sich, nicht nur zu lesen, was Lucy in ihrem Buch für "Besondere Gesehene Dinge" notiert. Bis man feststellt, dass man hier manchmal, fast so wie bei James Joyce oder Virginia Woolf, auch beim Lesen wirklich sehen kann. Denn Jones gelingt es immer wieder, Lucys Epiphanien mit poetischer Brillanz zu vergegenwärtigen: "Einfach nur das. Drei saphirblaue Hyazinthen in einem Tontopf. Sie besaßen die Ernsthaftigkeit von Monumenten und die Vollkommenheit Edens. Und Venen wie Schnüre, wie die an den Händen alter Menschen." Das Lyrische dieser Beschreibungen leidet nicht einmal an der Übersetzung ins Deutsche, obwohl es doch oft so zerbrechlich ist.

Es gibt einiges, was einen an diesem Roman stören könnte: zu viele exotische Orte, zu viel Fotografie im Wort, zu viel literarischer Anspruch - und das alles auf nur 220 Seiten. Doch glücklicherweise verhält sich "Sechzig Lichter" an manchen Stellen zu sich selbst ironisch. Lucy heißt mit Nachnamen Strange, und genau das ist sie auch, und so ist auch das Buch, das sich zum großen Teil um ihre Bilder und Fotografien dreht. Isaacs Familienname ist Newton, und Lucy ist sogar so strange, dass sie nicht versteht, was an dem Namen besonders sein soll, sie ist so vertieft in die Besonderheit eines Türgriffs oder eines Glasschafs, dass sie sich nicht auch noch um Physiker Gedanken machen kann.

Lucy Strange - der Name ist Programm für diesen etwas seltsamen Roman, der 2004 für den Booker Prize nominiert war. Er hätte ruhig auch gewinnen dürfen, denn Gail Jones Nähe zu ihren Figuren und ihre sprachliche und lyrische Kraft machen "Sechzig Lichter" zu einem luziden Lichtblick in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur.

Gail Jones: "Sechzig Lichter". Aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Nautilus, Hamburg 2008, 223 Seiten, 19,90 Euro

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.