piwik no script img

Seenotrettung im MittelmeerUnter Beschuss

Am vergangenen Sonntag hat die libysche Küstenwache die „Ocean Viking“ angegriffen. Nun ermittelt die italienische Polizei.

Die Ocean Viking nach dem Beschuss am vergangenen Sonntag Foto: Max Cavallari

Berlin taz | Nach dem Angriff der libyschen Küstenwache auf die Ocean Viking“ hat die italienische Polizei Ermittlungen aufgenommen. Beamte hätten Schäden auf dem Seenotrettungsschiff der Hilfsorganisation SOS Méditerranée gesichtet und Zeu­g*in­nen befragt. Das teilte die zuständige Staatsanwältin in Syrakus auf Sizilien mit, wo das Schiff zur Zeit ankert. SOS Méditeranée fordert eine vollständige und unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Die Angreifer müssten zur Verantwortung gezogen werden, so die Organisation.

Am Sonntag war die „Ocean Viking“ von einem Schiff der libyschen Küstenwache beschossen worden. Das Seenotrettungsschiff war nach Angaben der Besatzungsmitglieder in internationalen Gewässern unterwegs, etwa 40 Seemeilen vor der libyschen Küste, auf der Suche nach einem Geflüchtetenboot in Seenot. Neben der Crew waren 87 bereits aus Seenot gerettete Menschen an Bord.

Gegen 15 Uhr sei ihnen ein Corrubia-Patrouillenboot der libyschen Küstenwache begegnet – also ein Modell, das 2023 von Italien im Rahmen eines EU-Programms an Libyen übergeben wurde. Über das Funksystem hätte die libysche Küstenwache die „Ocean Viking“ dazu aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. In internationalem Gewässern hat die Küstenwache zwar kein Recht dazu. Die Besatzung der „Ocean Viking“ habe sich dennoch über Funk dazu bereiterklärt, in Richtung Norden abzudrehen.

Trotzdem hätten zwei Männer ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Etwa 20 Minuten habe der Beschuss gedauert. Fotos zeigen, dass Schüsse die Brücke der „Ocean Viking„trafen, Fenster auf Kopfhöhe durchschossen wurden, Rettungsboote und Ausrüstung beschädigt.

Flüchtlingssommer 2015

Zehn Jahre Flüchtlingssommer 2015: Die großen Fragen von damals sind die großen Fragen von heute – ganz egal, ob es um Grenzkontrollen, Integration oder die AfD geht. Die taz sucht in einem Sonderprojekt Antworten.

Salven auf das Schiff

Besatzungsmitglied John war während des Angriffs mit den geretteten Geflüchteten im Männerschutzraum an Bord. „Wir hörten Einschläge am Rumpf, direkt neben uns. Durch das Fenster konnten wir ihre Flagge sehen. Während sie uns umkreisten, feuerten sie sowohl Einzelschüsse als auch Salven auf das Schiff und unsere Rettungsboote“, berichtet er. Ein Notruf der „Ocean Viking“ an die nächstgelegene Nato-Einheit, ein Schiff der italienischen Marine, sei nicht entgegengenommen worden.

„Der libyschen Küstenwache geht es darum, die See­not­ret­te­r*innen einzuschüchtern“, vermutet Julia Leithauser, Sprecherin von SOS Méditeranée. Immer wieder kommt es im Mittelmeer zu Begegnungen zwischen libyschen Patrouillenbooten und Schiffen der zivilen Seenotrettung. Dabei gab es auch in der Vergangenheit Zusammenstöße, Warnschüsse oder Schüsse auf Geflüchtetenboote. Der Vorfall vom Sonntag sei aber eindeutig eine Eskalation, so Leithauser.

Italien und die EU unterstützen die libysche Küstenwache seit 2017 – mit Geld, Technik, Ausrüstung und operativ. Im Gegenzug soll die Küstenwache Menschen davon abhalten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Doch die Einsatzkräfte sind immer wieder an schwersten Menschenrechtsverletzungen beteiligt, wie Berichte der Vereinten Nationen zeigen.

Geflüchtete berichten von Folter, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und Sklaverei in libyschen Internierungslagern. Regelmäßig rette die Ocean Viking“ Schiffbrüchige, die Foltermale aufweisen, berichtet auch Leithauser. Die libysche Küstenwache lauere Booten auf, nehme die Flüchtenden gefangen und verbringe sie in Gefängnislager an Land.

Auf brutalste Weise

Manchmal montierten sie sogar die Motoren der Boote ab und verkauften sie an die nächsten Schlepper. „Die Ausbeutung von Menschen auf der Flucht ist in Libyen zum Geschäft geworden“, meint Leithauser.

SOS Méditeranée fordert von der EU, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache zu beenden. Auch Marcel Emmerich, Sprecher für Innenpolitik der Grünen Bundestagsfraktion findet: „Die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache ist ein großer Fehler und muss beendet werden.“ Der Beschuss der „Ocean Viking“ zeige, wie Retter und Gerettete auf brutalste Weise zur Zielscheibe würden. Wer schweige, mache sich mitschuldig am Sterben an Europas Außengrenzen.

In den vergangenen zehn Jahren haben zivile Seenotrette­r*in­nen etwa 175.000 Geflüchtete auf dem Mittelmeer geborgen. Auch die „Ocean Viking“ will weiterhin Menschen aus Seenot retten. Zuerst müssten aber das Schiff und die Ausrüstung repariert werden. „Und wir fragen uns jetzt natürlich: Wie arbeiten wir weiter, ohne uns und die Menschen, die wir retten, in Gefahr zu bringen?“, sagt Leithauser. „Aber kei­ne*r von uns ist bereit aufzugeben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare