Selbstverteidigungskurs für LGBTQ: Befreiung aus dem Würgegriff

In Brasilien werden weltweit die meisten Transpersonen ermordet. Eine Gruppe in Rio de Janeiro wehrt sich gegen die Gewalt.

Zwei Trainierende auf der blauen Matte

Schwitzen für den Selbstschutz: Die Piranhas trainieren Krav Maga für den Fall eines Angriffs Foto: Ana Júlia

Die Tür aus dünnen Gitterstäben zum Kampfkunststudio quietscht beim Öffnen. Dahinter: ein Arsenal aus Flipflops und Sneakers. Auf den blauen Matten im Inneren herrscht Barfußpflicht. Aber es ist Herbst in Rio de Janeiro, 19 Grad. Die Piranhas tappen auf Socken durchs Gym.

Bevor das Training beginnt, laden einige noch schnell ihre Smart­phones auf. Dann bittet der Trainer die zehnköpfige Gruppe in die Arena. Liegestütze, zehn an der Zahl. Weniger sind auch okay. Die Piranhas formieren sich, um gegen alltägliche Gewalt aktiv zu werden. Dazu braucht man Armmuskeln.

In einem Kampfkunststudio in Lapa, dem Ausgehviertel im Zentrum Rio de Janeiros, trifft sich die Gruppe zweimal die Woche, um Krav Maga zu praktizieren. Die Nahkampftechnik wurde als Selbstverteidigung gegen antisemitische Schläger entwickelt. Sie ist Teil der Ausbildung des israelischen Militärs. Die Technik schwappte in den 1990er Jahren nach Brasilien über. „Wir lernen nicht, anzugreifen, sondern uns selbst zu verteidigen“, sagt Lara Lincoln und streicht eine Strähne aus ihrem Gesicht.

Lincoln, 31 Jahre, hat die Gruppe vor einem Jahr mitgegründet. Eigentlich wollten sie und ihr Mitbewohner zunächst vor allem fit bleiben. „Aber wir haben eine Probestunde gemacht und uns daraufhin überlegt, dass es doch toll wäre, ein Selbstverteidigungstraining nur für LGBT-Personen zu machen“, erzählt die gelernte Frisörin. Gesagt, getan: Nach einem Gespräch mit der Studiochefin gründeten sich die Piranhas.

Piranha steht für Sexarbeiterin

Der Name ist ein Wortwitz: „Piranha steht umgangssprachlich für Sexarbeiterin und wird als Beleidigung verwendet. Aber es ist auch ein Fisch, der zubeißen und angreifen kann“, sagt Ana Júlia Costa, die gemeinsam mit Lincoln trainiert. Costa, stillerer Natur als Lincoln, ist erschöpft vom Aufwärmen. Ventilatoren an den Wänden pusten den Schweiß von ihrer Stirn.

„Piranhas halten zusammen, und genau das zeichnet uns aus“, sagt Costa. Für Lincoln ist das Training empowernd: „Ich bin trans und für uns ist jeder Tag aufs Neue gefährlich. In diesem Jahr wurden bereits mehr als hundert LGBT ermordet.“

Das belegen auch die Zahlen des Trans Murder Monitoring Projektes. Laut diesem wird alle 25 Stunden eine LGBT-Person in Brasilien umgebracht. 2016 fielen insgesamt 343 Menschen der Hassgewalt gegenüber LGBT-Personen in Brasilien zum Opfer. Das größte und bevölkerungsreichste Land Südamerikas ist damit weltweit trauriger Spitzenreiter.

Allerdings ist das Monitoring mit Vorsicht zu genießen: Neben Staaten, die Übergriffe polizeilich erfassen, tauchen nur diejenigen im weltweiten Ranking auf, in denen eine aktive Zivilgesellschaft Daten erhebt. Die brasilianischen Zahlen wurden von der Grupo Gay da Bahia erhoben, die jährlich Zeitungsberichte nach Todesfällen und Übergriffen auswertet.

Innerhalb Brasiliens verzeichnet Rio de Janeiro nach den Bundesstaaten São Paulo und Bahia mit 30 Fällen die drittmeisten Morde an LGBT-Personen. Fast wöchentlich machen gewaltsame Todesfälle und Übergriffe in der zweitgrößten Stadt des Landes Schlagzeilen. Anfang April wurde ein schwules Paar im Mittelklassestadtteil Tijuca von zwanzig Männern aus der Nachbarschaft verprügelt. Auch Lincoln hat Erfahrungen mit Gewalt.

Vorsichtsmaßnahmen

„Zu Beginn meiner Transition wurde ich auf der Straße von vier Männern umzingelt, auf den Boden geschubst und in den Rücken getreten“, erzählt sie, während die anderen hinter ihr Sit-ups machen. Obwohl der Zwischenfall elf Jahre her ist, hat sie Lincoln geprägt: „Am traurigsten fand ich, dass einer der Angreifer ein ehemaliger Mitschüler war.“ Der Angriff geschah in Duque de Caxias, einem Vorort Rio de Janeiros, in dem Lincoln aufwuchs.

Heute wohnt sie in Lapa und erlebt ihren Alltag als sicherer. „Das liegt allerdings nicht an dem Viertel, sondern daran, dass ich Vorsichtsmaßnahmen treffe. Verlassene Straßen und gefährliche Orte meide ich“, sagt Lincoln, die sich als Partypromoterin durchschlägt.

Vor ein paar Monaten verlor sie ihre Festanstellung – und wäre fast aus dem Training ausgestiegen. Um Geld zu sparen, überlegte sie, zurück zu ihrer Mutter zu ziehen. Durch die lange Anfahrtszeit und hohen Fahrtkosten hätte es sich nicht gelohnt, weiterhin zu trainieren.

Die Teilnahme am Krav Maga kostet 80 brasilianische Reais (circa 21 Euro) pro Monat. Bei einem monatlichen Mindestlohn von 937 Reais muss man sich das Training leisten können. Die Piranhas haben eine Lösung für dieses Dilemma: „Wir haben uns als Gruppe überlegt, dass wir alle ein wenig mehr zahlen und den Transmitgliedern so das Training mitfinanzieren. Jetzt, wo die Gruppe größer ist, geht das“, sagt Costa, die als Aktivistin ehrenamtlich Nachhilfekurse für Trans leitet.

Für Transpersonen, also Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei Geburt zugewiesen wurde, sei es schwieriger, Jobs zu kriegen und sich in der Stadt über Wasser zu halten. Daher finanzieren die Cis-Mitglieder wie Costa das Training quer.

Probleme mit dem Verband

Das Studio erwies sich für die Piranhas als Glückstreffer: Die Chefin ist selbst lesbisch, hat Ausgrenzungserfahrungen im Kampfsport gemacht und war sofort total aufgeschlossen, einen Kurs für LGBT-Personen anzubieten. „Natürlich haben wir uns vorher gefragt, ob die anderen Mitglieder des Gyms das gut finden werden. Aber wir wurden mit offenen Armen begrüßt“, sagt Lincoln und joggt locker ein paar Runden hinter den anderen her.

Auch die Trainer*innen unterstützten die Gruppe von Anbeginn. Einer von ihnen steuerte Geld bei, als Lincoln ihren Job verlor. „Er hat vorher noch nie LGBT-Personen unterrichtet, aber war sofort von der Idee angetan. Ich fand das einfach nur toll“, so Lincoln. Allerdings möchten die beiden Trainer*innen sich weder fotografisch noch namentlich in den Medien wiederfinden.

Wegen eines Artikels bekamen sie Probleme mit dem brasilianischen Krav-Maga-Dachverband. „Die Zeitung nannte unser Training ‚Krav Magay‘ und tat so, als hätten sie sich den Namen ausgedacht“, sagt Lincoln und verdreht die Augen. Herablassend habe sie das gefunden. Dem Boss des Dachverbandes gefiel es nicht, dass seine Sportart mit LGBT-Personen assoziiert wurde. Er drohte den Trainer*innen mit dem Rauswurf.

Sie wisse nicht, woher diese Vorurteile kämen: „Wir sind LGBT und die Leute hassen uns, aber ich habe keine Ahnung, wieso.“ Derweil bittet der Trainer die Piranhas, Zweierpaare zu bilden, und macht mit einem unfreiwillig Freiwilligen vor, was die anderen nun lernen sollen: die Befreiung aus dem Würgegriff.

Selbstermächtigung

Für Lincoln ist das Training wortwörtlich selbstermächtigend – und zwar nicht nur hinsichtlich genderspezifischer Gewalt. „Letztens versuchte mich eine Gruppe Männer auf der Straße zu überfallen. Ich war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, wollte die Straße überqueren, als einer auf mich zukam und mich am Arm packte. Ich habe seinen Arm umgedreht, wie ich es im Training gelernt hatte“, erzählt sie flüsternd, während der Trainer im Hintergrund Anweisungen gibt.

Der Angreifer verstand, dass sie zu mehr fähig war, bekam Angst und ließ von ihr ab. „Wenn ich damals in Duque de Caxias gewusst hätte, wie ich mich verteidigen muss, hätte ich den Angriff meines ehemaligen Mitschülers nicht durchmachen müssen“, sagt Lincoln. Die Polizei einzuschalten, war für sie keine Option. Im Gegenteil: „Für die Autoritäten sind wir keine Frauen. Ich habe schon viele Situationen gesehen, in denen Transpersonen angegriffen wurden und die Polizei einfach vorbeifuhr.“

Lincoln möchte bald ihren gelben Gürtel machen. Zur Finanzierung sammelt sie nun Spenden. „Es geht nicht nur darum, dass ich Sport lerne. Mir wird hier mit Würde begegnet. Nur weil man eine LGBT-Person ist, heißt es nicht, dass man all diese Gewalt ertragen muss“, so Lincoln.

Sie will weiterkämpfen, bis sie so respektiert wird, wie sie ist. Dafür huscht sie nun schnell zurück zu ihrem Trainingspartner, schmeißt sich auf den Boden und lässt ihn ihren Hals würgen. Nur wenn sie hier lernt, sich daraus zu befreien, wird sie so etwas in ihrem Alltag nicht erleben müssen.

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