Selenskyjs Gesetz gestoppt: Ukrainische Behörden für Antikorruption bleiben unabhängig
Nach Protesten im Land und Drohungen der westlichen Staaten macht das Parlament ein umstrittenes Gesetz von Präsident Wolodymyr Selenskyj rückgängig.

Im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw brandete am Donnerstag Jubel auf. Tausende Demonstrant*innen feierten das Parlament (Werhowna Rada). Dieses hatte kurz zuvor über ein Gesetz abgestimmt, das die Unabhängigkeit von zwei Antikorruptionsbehörden, dem Nationalen Antikorruptionsbüro (Nabu) und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP), wiederherstellt. 331 Abgeordnete stimmten dafür. Gegenstimmungen sowie Enthaltungen gab es keine.
Keine zwei Stunden später hatte Präsident Wolodymyr Selenskyj das Gesetz schon unterzeichnet. Er bedankte sich bei den Abgeordneten. Jetzt gebe es Garantien für eine normale und unabhängige Arbeit der Antikorruptionsbehörden und aller Strafverfolgungsbehörden des Staates. Es sei sehr wichtig, dass der Staat auf die öffentliche Meinung höre, so Selenskyj.
„Die Ukraine ist eine Demokratie – daran bestehen absolut keine Zweifel“, sagte er. „Tun Sie doch nicht so, Herr Präsident. Die Abschaffung der Machtbefugnisse hätte nicht passieren dürfen, das ist kein Erfolg, das ist eine Korrektur Ihrer Fehleinschätzungen“, schrieb ein Nutzer auf dem ukrainischen Portal Ukrainska Prawda.
Wollte Selenskyj seine eigenen Leute schützen?
Mit dieser Einschätzung dürfte er nicht alleine sein. Am 22. Juli hatte die Rada mit dem Gesetz Nr. 12414 für die quasi Entmachtung der Antikorruptionsbehörden gestimmt. Das Nabu und die SAP sollten dem Generalstaatsanwalt unterstellt werden. Den ernennt der Präsident. Beobachter*innen nannten als einen wichtigen Grund für die Eile, dass Selenskyj offensichtlich einige Personen aus seinem eigenen Umfeld aus der Schusslinie bringen wollte.
Noch am selben Abend gingen vor allem junge Ukrainer*innen auf die Straße. Nachdem Selenskyj das Gesetz dennoch im Eilverfahren unterzeichnet hatte, wuchs die Protestbewegung an – mit Slogans wie „Korruption tötet, und „dafür ist mein Vater nicht gestorben“. Und die Protestierenden blieben hartnäckig – trotz geltendem Kriegsrecht, unter dem Protestaktionen in nur sehr eingeschränktem Maß erlaubt sind.
Parallel dazu machten auch westliche Politiker*innen und Institutionen Druck. Die EU-Kommissarin für Erweiterung, Marta Kos, erinnerte daran, dass die Unabhängigkeit der Antikorruptionsorgane Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine und damit eine wesentliche Voraussetzung für die europäische Integration Kyjiws sei. Kurz darauf drohte Brüssel mit dem Stopp aller Finanzhilfen. Schließlich knickte Selenskyj ein und kündigte an, der Rada einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der das Rechtssystem stärken und alle Normen für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsinstitutionen wahren werde.
Dass das neue Gesetz jetzt so geschmeidig die Rada passierte, war nicht unbedingt zu erwarten. Vor allem auch in der Fraktion von „Diener des Volkes“, der Partei Selenskyjs, gibt es so einige unsichere Kantonisten. Der russischsprachige Dienst der BBC berichtet, dass laut Nabu gegen 31 Abgeordnete der Partei Strafermittlungsverfahren anhängig sind. Das trifft offensichtlich nicht auf den Abgeordneten Dmitri Kostjuk zu.
Eine „rote Linie“
Er erklärte am Donnerstag, die Fraktion „Diener des Volkes“ zu verlassen. Als Grund nannte er deren Abstimmungsverhalten in der vergangenen Woche. Er sei auf dem Maidan und immer für die europäische Entscheidung der Ukraine gewesen. „Und es war die Revolution der Würde, die diese zivilisatorische Entscheidung um den Preis des Lebens unserer besten Landsleute getroffen hat“, zitiert die Ukrainska Prawda Kostjuk.
Der ukrainische Journalist Witali Portnikow sieht in der Parlamentsabstimmung vom Donnerstag sowohl positive als auch negative Tendenzen. Positiv sei, dass die Regierung dem Druck der Gesellschaft und der westlichen Partner habe nachgeben müssen, schreibt er auf dem Portal Nowoje Wemja. Negativ hingegen sei, dass es der Staatsmacht nicht nur an strategischem, sondern auch grundlegendem taktischem Denken fehle. Die Unabhängigkeit der Antikorruptionsorgane sei seit Langem eine „rote Linie“.
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