Seminar für angewandte Unsicherheit: Vegetarismus mal anders

Das "Seminar für angewandte Unsicherheit" will linke Ideen mit Überwachungskritik verbinden. Mit Kameraspaziergängen und Rollenspielen mobilisieren sie.

Das "Seminar für angewandte Unsicherheit" analysiert Überwachung in Bezug auf ihre Grundlagen und formuliert eine explizite Kapitalismuskritik Bild: steffne / photocase.com

BERLIN taz | Die Plakate an den Wänden erinnern an längst vergangene, bewegte Zeiten. Sie kündigen Aktionen gegen Neonazis an, propagieren den Feminismus und erinnern an verhaftete Genossen, für die Geld durch Solipartys gesammelt werden soll.

Das Studentische Begegnungszentrum (SBZ) "Krähenfuß" ist einer der letzten alternativen Treffpunkte in Berlin-Mitte und als selbstverwaltetes Studentencafé an der Humboldt-Universität vor allem Anlaufpunkt für politisch aktive Studierende. Regelmäßig finden Veranstaltungen der Queerfeministinnen oder der lokalen Antifa statt, an einem Tag in der Woche läuft nur klassische Musik.

Heute finden sich auf den gemütlichen Sofas und Kinosesseln 20 Menschen ein, um an der "Schnitzeljagd für Datenvegetarier_innen" teilzunehmen. Es geht um Datensammler im Internet und wie man sich möglichst datensparsam durchs Netz bewegt.

Eingeladen hatte das "Seminar für angewandte Unsicherheit" (SaU). Die ehemalige Studierendengruppe, die sich im Zuge der Terrorhysterie nach den Anschlägen am 11. September 2001 gegründet hatte, organisiert Diskussionsveranstaltungen, Filmabende und Spaziergänge, die für die massenhafte Präsenz von Kameras in der Öffentlichkeit sensibilisieren sollen.

Ihre Aktivitäten konzentrieren sich auf die Kritik staatlicher und privater Überwachung. Im Gegensatz zum traditionellen Datenschutz allerdings, der inzwischen weitgehende Zustimmung in der Öffentlichkeit genießt, analysiert das SaU jedoch Überwachungsbestrebungen auch in Bezug auf ihre gesellschaftlichen Grundlagen und formuliert davon ausgehend eine explizite Kapitalismuskritik. Der klassische Datenschutz gehe nicht weit genug und sei ineffektiv, glaubt die Gruppe.

Kein genuin linkes Anliegen

Ursprünglich in Abwehrkämpfen gegen den Staat entstanden, sei er heute kein genuin linkes Anliegen mehr. Datenschutz werde beispielsweise auch von privilegierten Gruppen genutzt, um ihre Interessen durchzusetzen, etwa durch die Stärkung des Geschäftsgeheimnisses.

Wer Überwachung konsequent und grundsätzlich kritisiere, komme nicht umhin, nach ihren gesellschaftlichen Bedingungen zu fragen. In der neoliberalen Phase des Kapitalismus seit den 1970er Jahren seien Werte wie Eigenverantwortung und Selbstmanagement wichtiger geworden. "Heutzutage werden die Menschen eher durch Anreize diszipliniert. Das gilt für die Arbeitswelt, aber auch beispielsweise für Krankenkassen: Wer hier die Bonushefte und Vorbeugungsmaßnahmen nicht mitmacht, muss eben möglicherweise mehr zahlen", erklärt Fiona von der SaU im Gespräch mit der taz.

Die Speerspitze dieses Wandels stelle das Web 2.0 dar: Wer sich hier der allgemeinen Selbstdarstellung enthalte, werde zwar nicht direkt bestraft. Allerdings wäre die Person mit sozialen Ausschlüssen konfrontiert: Viele soziale Handlungen wie Treffen werden heute per Facebook oder E-Mail verabredet. Aber auch auf die Berufsperspektive kann sich die Enthaltung vom Datenexhibitionismus auswirken.

"Wenn ich mich zwischen zwei Bewerbern entscheiden müsste, würde ich eher den einstellen, der im Internet auffindbar ist, als den, von dem man nichts findet", so sagte beispielsweise Bastian Koch, Reputationsmanager der Marketingagentur Keksbox, im Magazin Politikorange.

Im Rollenspiel wird geübt

Weil aber über ein baldiges Ende des Kapitalismus bei der SaU keine Illusionen bestehen, greifen sie bis dahin auf Methoden der Datenschützer zurück, die sich durchaus bewährt haben: Den meist jungen Menschen, die sich heute zum Workshop eingefunden haben, wollen sie ihre Idee des "Datenvegetarismus" vermitteln. Gemeint ist damit die bewusste Nutzung des Netzes, mit einem Rollenspiel wird das datensparsame Surfen geübt.

Dass Internetnutzer besser keine Cookies nutzen und bei Facebook nicht ihren bürgerlichen Namen benutzen sollten, leuchtet heute vielen ein. Weniger bekannt sind die Verstrickungen der Internetfirmen: Diverse Dienstleistungs- und Social-Network-Firmen gehören großen Konzernen wie Microsoft oder Apple, die somit Zugriff auf ihre Daten haben.

Auch die Folgen von Datenspuren können immer noch erstaunen: In der Schweiz erhielt eine Angestellte eine fristlose Kündigung, nachdem sie trotz Krankschreibung 20 Minuten in Facebook eingeloggt war. Sie verdächtigt ihre ehemaligen Arbeitgeber, ihr gezielt nachspioniert zu haben.

Die SaU will jedoch nicht bei Konsumkritik im Internet stehen bleiben, ihnen geht es um mehr: Die Gruppe unterstützt die Proteste gegen den europäischen Polizeikongress, der jedes Jahr im Februar in Berlin stattfindet. Er ist eine Messe für Sicherheitstechnik, jedoch wird hier auch der politische Diskurs durch Vorträge eingeladener Politiker weiter nach rechts verschoben.

Mehr Sicherheit für die Eliten

"Das bedeutet die Forcierung einer Politik, die zu mehr Sicherheit für die Eliten und zu weniger Freiheit für den größten Teil der Bevölkerung führt", meint Fiona dazu. Durch den Schwerpunkt auf präventive Verbrechensbekämpfung droht die Unschuldsvermutung als wesentlicher Bestandteil des bürgerlichen Rechts unterwandert zu werden.

Linksradikale und überwachungskritische Gruppen wollen deswegen am 28. Januar gegen diese fortschreitenden autoritären Tendenzen in Europa und die ausgrenzende Sicherheitspolitik an den Grenzen der EU protestieren.

"Soziale Konflikte lassen sich nicht dauerhaft durch Überwachung verdrängen oder durch Polizeigewalt unterdrücken", so ein Teilnehmer des Workshops der SaU.

Von der Post-Privacy-Bewegung hält die Gruppe nicht viel: "Die sind im engen Sinne gar nicht politisch", meint ein Mitglied der SaU. Über ein neues Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit könne erst nach der Überwindung des Kapitalismus nachgedacht werden, wenn die Menschen kein Interesse mehr daran hätten, sich permanent gegenseitig zu schädigen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg, den man sich durch die Volksküche im SBZ "Krähenfuß" verkürzen kann.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.