Sergei Loznitsa über seinen Film Donbass: „Den Horror nicht am Anfang zeigen“

In 13 Episoden Tragik-Farce schildert Sergei Loznitsas Film „Donbass“ die Entmenschlichung in den okkupierten ukrainischen Gebieten.

Uniformierte kontrollieren Busspassagiere, die ihren Oberkörper freimachen mussten

Demütigung am Check-point: Still aus „Donbass“ Foto: Edition Salzgeber

Der Mob prügelt einen Wehrlosen fast tot; die Separatisten wissen nicht, wer sie anführt; eine Hochzeit gerät aus den Fugen; „Besitzenden“ wird das Auto abgenommen … für die neue Macht. Hemmungslos der Diebstahl, kaltblütig der Mord: ein Irrsinn, dargeboten im Grenzbereich von authentischer Absurdität und Meta-Fake-News.

taz: Ist „Donbass“ eine grausam-groteske Maskerade?

Sergei Loznitsa: Ich würde es Karneval nennen, die Performance von etwas, dem gegenüber du dich nicht ernsthaft verhältst, das aber eigentlich sehr ernst ist. Wie das Michail Bachtin für François Rabelais beschrieben hat.

Das mittelalterlich Karnevaleske mischt sich in „Donbass“ aber mit hyperrealem Material, quasi found footage.

Natürlich! Nichts entsteht einfach so. Kunst fängt immer die Intonationen auf, die es in der Realität gibt. Wer sagt denn, dass das (post-)sowjetische Territorium, das ich beschreibe, nicht vom mittelalterlichen Bewusstsein handelt? All diese Vasallen und Souveräne, das sind Kons­truk­tionen, die mit der Neuzeit nichts zu tun haben.

Mit knapp 20 Dokumentarfilmen und nun dem vierten Spielfilm nach „Mein Glück“ (2010), „Im Nebel“ (2012) und „Die Sanfte“ (2017) ist der in Weißrussland geborene, in der Ukraine aufgewachsene (Studium der angewandten Mathematik) und in Russland zur Filmregie konvertierte Sergei Loznitsa (geb. 1964) aktuell einer der produktivsten und erfolgreichsten Regisseure. Der Wahlberliner reüssiert von Cannes bis Venedig. Seine formal präzisen Arbeiten erkunden schonungslos den Homo (post-)sovieticus.

Was wir da alles zu sehen bekommen, ist also nicht erfunden, sondern gefunden?

„Donbass“. Regie: Sergei Loznitsa. Mit Boris Kamorzin, Valeriu Andriuta u. a. Ukraine 2018, 121 Min. Ab 30. August in Deutschland im Kino.

Zunächst gilt für jedes Kunstwerk, dass es immer beides geben muss. Aber mein Ausgangspunkt waren Videoclips, die ich auf Youtube fand, von irgendwelchen Leuten, die das festhielten und ins Internet stellten. Sieben von dreizehn Episoden meines Films gehen direkt auf diese Videos zurück; die stimmen sogar im Wortlaut fast komplett überein. Ich habe nur noch ihre Dramaturgie verstärkt und jeder Episode ein Ende gegeben. Aber die Episoden selbst – wie zum Beispiel die, in der die Kriegsgefangenen ihre Kameraden brutal mit Stöcken knüppeln – das geschah in der Stadt Sugres, davon gibt es ein Video. Auch von dieser absurden Hochzeit gibt es eins.

Die Hochzeit kommt nicht von Gogols Komödie „Die Heirat“?

Doch, auch! (lacht) Beides – reale Hochzeit und Gogol. Warum nehme ich diese Episode? Weil der Karneval mit den Ritualen kämpft, sie zerstört. An diesen Bruchstellen beginnen die Alltagsrituale zu zerfallen. Geburt, Hochzeit, Tod – sie formieren das Leben. Hier wird das Ritual gestört – die Hochzeit wird ja zu einer regelrechten Feier des Ungehorsams –, das ist charakteristisch für die Umstände, von denen ich erzähle, in denen eine totale Transformation der Gesellschaft passiert. Das kann progressiv oder regressiv verlaufen. Hier natürlich geht es um Regression.

Was hat Sie an diesen Videos fasziniert?

Wie die Anwesenheit der Kamera eine Art Bühnenwirksamkeit der Menschen bewirkt. Jeder dort weiß, dass er Teil einer großen Performance ist, zumindest intuitiv. Sie spielen jemand. Sie haben keine eigenen Ideen, sind reine Instrumente. Viele benehmen sich dabei so, wie es ihnen das sowjetische Kino beigebracht hat.

Zum Beispiel?

Der Kopfstein ist die Waffe des Proletariats. Da werden Barrikaden gebaut, Molotowcocktails gebastelt, Paraden abgehalten. All diese Traditionen leben per Trägheitsgesetz weiter, über Jahrzehnte. Wir haben unzählige Filme über Partisanen, den Krieg, die Revolution. All diese herrlichen Filme wie „Maxims Jugend“. Das sitzt im Blut. Die Menschen wissen sofort, wie sie sich benehmen müssen, in jeder Situation. Als die ukrainischen Kriegsgefangenen durch die Straßen von Donezk geführt und der Bevölkerung vorgeführt wurden, da wussten die Zivilisten sofort, dass man schreien muss und spucken, protestieren und mit Steinen werfen. Woraus ist diese Einstellung genommen? (zwinkernd) Aus „Blokada“ zum Beispiel (Anm. d. Red.: Loznitsas Found-Footage-Film über die Leningrader Blockade).

Das Kino generiert dieses Verhalten?

Ich bin davon überzeugt.

Wie wird in Ihrem Film damit umgegangen? Mit diesem Verwirrspiel von Fake und authentisch, inszeniert und real? Zeigen Sie Ihren Akteuren diese Videos?

Einigen schon, etwa die Szene im Rathaus, wo die Bürgermeistergattin und die Journalistin sich in die Haare kriegen (Anm.: Weil Letztere dem Bürgermeister einen Eimer Scheiße über den Kopf gießt). Es ging darum, den genauen Ton zu erhalten.

Sie arbeiten mit Profis und Laien.

Genau. Wer wer ist, lässt sich nicht mehr unterscheiden. Wir hatten Glück bei der Auswahl, von 100 Leuten waren nur 26 Profischauspieler. Die Vermischung ist sehr wichtig für den Film, der ja in Wellen daherkommt: Mal wird gespielt, mal kommt ganz plötzlich diese schreckliche Kälte der Realität zum Vorschein.

Ein authentischer Horror.

Wie in der letzten Szene, in der nur noch das aufgeräumt werden muss, was von den „Handlungen“ der Militärs übrigbleibt. Die Ärzte und Kriminalisten, die ich filme, machen hier ihre wirkliche Arbeit. Für sie ist das leicht. Es ist faszinierend zu sehen, wie professionell und mechanisch sie inmitten dieses Horrors ihrer Arbeit nachgehen.

Und die „Schauspieler“, die im Wohnwagen für ihren Auftritt präpariert werden?

Die dann die fiktiven TV-Nachrichten spielen? Das sind wenig bekannte Schauspieler, ja.

Aber gibt es das auch in Wirklichkeit?

Natürlich! Das ist bekannt: In der Ukraine gibt es einige Personen, immer wieder dieselben Gesichter, die in unterschiedlicher Kleidung und Make-up an unterschiedlichen Orten auftauchen. Neulich sah ich einen Beitrag im russischen Fernsehen, auf Ren-TV, über die Premiere des Films „Sobibor“ in Warschau. Da trat eine Frau auf, die als „israelische Botschafterin“ betitelt wurde. Ich wurde stutzig, ihr Benehmen, ihre Stimme, ihre protzigen Ringe und dicken Lippen … Ich hängte mich ins Internet und fand die echte Botschafterin. Die im Fernsehen war eine Schauspielerin!

Die Rahmung des Films handelt von der Herstellung solcher Fake News. Mit bösem Ende für die Darsteller.

Ich wollte zeigen, dass – und das ist die Regel – diejenigen, die mitmachen und mit dem Teufel kooperieren, zu Opfern werden. Am Ende meines neuesten Films „Trial“ (Anm.: einem Archiv-Footage-Film über die Stalin’schen Schauprozesse) führe ich die Schicksale der Prozessführer einzeln an: Die Staatsanwälte wurden später genauso erschossen wie diejenigen, die sie angeklagt und verurteilt hatten.

Gibt es in Ihrem Drehbuch eine Gewichtung der Scheußlichkeiten?

Klarerweise. Ich kann ja nicht den ganzen Horror gleich am Anfang zeigen. Das Gesetz des Kinos verlangt nach Kulmination, erst am Ende zeigt man etwas, das so schockiert, dass danach der Film aus sein muss. Der Tod völlig unschuldiger Menschen im Autobus, der beschossen wird, während er an einem Checkpoint wartet, ist für mich erschütternd. Bei Wolnowacha war das, absolut entsetzlich. Der Krieg ist insgesamt natürlich schrecklich, aber dieses Bild ist der reinste Horror. Das ist mein Kulminationspunkt. Davor kommt ein grotesker Moment.

Wollen Sie, dass gelacht wird?

Klar, ich lache da selbst. Die Dame mit der Ikone etwa – völlig absurd. Gerade in Situationen, wo alles labil ist und unklar, kommen solche Abenteurer zusammen. Auch davon gibt es ein Video – im Original spricht die Dame übrigens noch wunderlicher …

War es nicht verlockend, diese Clips in den Film aufzunehmen?

Beim Festival in Krakau, gleich nach Cannes, habe ich einen Workshop gemacht – einen Szenenvergleich Video-Footage versus Film. Das war auch für mich interessant herauszufinden, ab welchem Punkt der künstlerische Wert verloren geht, bei zu viel Nähe zum „Leben“.

Und die spezifische Episodenstruktur?

Es gibt das auch bei Buñuels „Le fantôme de la liberté“: Ein Staffelholz wird von Episode zu Episode weitergereicht … Aber ich wusste schon vorher: Es hätte niemals nur einen Helden geben können. Ich wollte die ganze Palette dieses Wahnsinns zeigen, der da gerade vor sich geht.

Wie lässt sich dieser Wahnsinn in „Donbass“ beschreiben?

Der Film hat nur ein Thema: die Korruption in all ihren Erscheinungsformen – die der Moral, im wörtlichen Sinn, der Wertezerfall. Der Krieg ist genauso eine Krankheit wie die Pest.

Auf anthropologischer Ebe­ne …

… passiert: die reinste Dehumanisierung. Das begann, als die Moral fiel und alles erlaubt war. Im Jahr 1917 kam das an die Oberfläche. Nachzulesen bei Bunin, Rosanow oder Prischwin. Heute ist er wieder am Ruder: der amoralische Mensch.

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