Serie Atomkraft in Asien (II): Der einsame Sieg

Teebauer und Atomgegner Kazuo Ohishi kann sich als moralischer Sieger über die Atomwirtschaft fühlen. Aber die Katastrophe ist jetzt auch bei ihm angekommen.

Hühnerstall mit Solaranlage: "rentiert sich erst nach sieben Jahren". Bild: Georg Blume

SHIZUOKA taz | Es regnet in Strömen über den tiefgrünen Teebergen von Shizuoka. Hier wächst eine der teuersten Teesorten der Welt - das Pulver für Japans elaborierte Teezeremonien. In schwarzen Lackschuhen rutscht Kazuo Ohishi durch seine tropfnassen Teebüsche.

Er trägt einen dunkelblauen Regenschirm, damit wenigstens sein gebügeltes blaues Jackett trocken bleibt. Der Teebauer will eigentlich hinab an die Küste zur Atomanlage von Hamaoka fahren. Er will dort mit eigenen Augen sehen, was sich verändert hat, seit alle fünf Reaktoren der Anlage im Mai stillgelegt wurden.

Doch vorher muss Ohishi seine Hühner füttern. Der 57-jährige Biobauer macht alles selbst, er hat keine Angestellten, nur seine drei Jahre jüngere Frau Naomi hilft ihm. Der Hühnerstall steht mitten auf der Teeplantage. Jetzt ist Erntezeit. Ohishi greift auf dem Weg zum Stall mit gespreizten Daumen nach den zarten, feinen Teeblättern. So wie er es bei der Ernte tut. Er setzt den Daumennagel genau über dem Blattstängel an. Schon seit einem Vierteljahrhundert erntet Ohishi nur mit den eigenen Händen seine wertvolle grüne Ware - mit erstaunlichem wirtschaftlichem Erfolg. Dafür bürgt die teure Solaranlage auf seinem Hühnerstall. "Das Ding rentiert sich erst nach sieben Jahren", sagt der Bauer, während er Futter aus einem Schuppen holt. Doch Ohishi wollte schon vor Fukushima nicht länger vom Atomstrom zehren. Das war für ihn keine wirtschaftliche, sondern eine Prinzipienfrage. Bereits 1979 entwarf Ohishi seinen ersten Unterschriftenaufruf gegen die Atomkraftwerke in Hamaoka. "Damals bestand die Anti-AKW-Bewegung in dieser Gegend nur aus ein paar Fischern, die dann Entschädigungen erhielten und die Bewegung aufgaben. Danach habe ich allein weitergemacht", sagt Ohishi.

Montag, 25. Juli – Japan: Die Energiewende Nach Fukushima bröckeln die Bündnisse der Atomlobby. Der Toshiba-Chef ist abgesprungen, die Ökonomen des Landes denken um.

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Mittwoch, 27. Juli – Indien: Das größte AKW der Welt: Der Sohn kam bei einer Anti-AKW-Demo ums Leben. Wie ein Fischerdorf den Bau des größten Atomkraftwerks der Welt verhindern will.

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Donnerstag, 28. Juli – Indien: Zweifel am Atomboom Die Kongresspartei in Delhi will ihr Atomprogramm retten. Einer der Stars der indischen Politik gewährt seltene Einblick

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Freitag, 29. Juli – China: Die gefährdeten AKWs Am Gelben Meer, vor den Toren einer 4-Millionen-Einwohner-Stadt, stehen riesige AKWs. Tsunamis könnten eine Katastrophe auslösen.

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Samstag, 30. Juli – China: Der Schrecken der Kommunisten Die Partei fürchtet eine wachsende Protestbewegung, die durch Fukushima erweckt wurde. Besuch bei Chinas Chefplaner der Atompolitik

Gleiche Entfernung nach Tokio wie nach Fukushima

Seine Hühner sind jetzt versorgt. Er nimmt seinen grauen Kleinwagen und fährt 15 Kilometer bergab durch Teeberge und Regen. Bei Sonnenschein könnte man unterwegs den Fujiyama sehen, Japans höchsten Berg. Bis zur Hauptstadt Tokio sind es von hier nur 200 Kilometer in östliche Richtung, die gleiche Entfernung wie von Tokio nach Fukushima im Norden.

Ohishi hält seinen Wagen vor einem durch eine neue Straße geteilten Hügel ganz in der Nähe der Atomanlage. Er springt über den Straßengraben in den Matsch. Dann lehnt er sich mit einer Hand an den steilen, frisch aufgeworfenen Abhang des Hügels und fährt mit der anderen Hand durch das weiche Gestein. Sandschlamm rieselt durch seine Finger. "Darauf sind die Atomkraftwerke hier gebaut", ruft Ohishi über den Graben zurück. Es ist die Geste eines Mannes, der jahrzehntelang mit seinen Worten niemand überzeugen konnte. Jetzt kann er diese Geste nicht mehr ablegen. Der Regen peitscht ihm ins Gesicht.

Nur wenige hundert Meter weiter erreicht Ohishi mit seinem Wagen den weißen Sandstrand von Hamaoka. Trotz des Wetters sind Windsurfer vor den Reaktoren unterwegs. Warum auch nicht? Die Atomkraftwerke liegen still. Ganz still. Keinen Ton gibt die riesige Industrieanlage mit ihren fünf eng aneinanderstehenden Atommeilern mehr von sich. Ohishi wählt eine Stelle, an der man der Anlage sehr nahe kommt. Nicht etwa ein hoher Zaun mit Stacheldraht, sondern nur ein kleines, kniehohes Verbotsschild aus behelfsweise zusammengeschraubten Metallstangen hält vom Weitergehen ab. Ein Zeichen, dass es hier nie größere Proteste gab.

Kein Deich schützt

Ohishi zeigt auf eine begraste Düne zwischen Strand und Reaktoren. Nicht einmal ein Deich schützt die Atomanlage. "Hier will man jetzt eine Tsunami-Schutzmauer bauen und dann die Anlage wieder anstellen", sagt Ohishi. Seine Worte sind voller Skepsis. Er gibt damit zu erkennen, dass die AKWs in Hamaoka nach seiner Auffassung schon nach kurzer Zeit wieder ans Netz gehen könnten. Als habe Japan nichts aus Fukushima gelernt.

Das sehen nicht alle so: "Unter allen Umständen erscheint ein Wiederanschalten der Hamaoka-Reaktoren unwahrscheinlich. Es würde Jahre dauern, um dort Dämme zu bauen und andere Maßnahmen zu unternehmen, die die Reaktoren vor Erdbeben und Tsunamis schützen können", schreiben die Atomexperten Mycle Schneider, Antony Froggatt und Steve Thomas in der jüngsten Ausgabe des US-amerikanischen Fachblatts Bulletin of the Atomic Scientists.

Ohishi aber lächelt nur, wenn man ihn mit solchen Ansichten konfrontiert. Er glaubt nicht, dass die Menschen in seiner Gegend nach Fukushima klüger geworden sind. Aber er denkt, dass es am Ende auf sie und nicht auf die internationale Öffentlichkeit ankommt, ob die Reaktoren wieder angestellt werden oder nicht.

Die Diskussion um Hamaoka ist jahrzehntealt. Schon immer war unbestritten, dass Hamaoka der am meisten von Erdbeben und Tsunami gefährdete AKW-Standort der Welt ist. Seine Lage direkt über einer berüchtigten Erdplattenspalte an einer ausgestreckten Küste vor dem offenen Pazifik ergab bei Berechnungen, dass hier mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Beben der Stärke 8,0 auf der Richterskala innerhalb der Laufzeit der AKWs stattfinden müsse und einen verheerende Tsunami auslösen könne. Nach dem Beben von Fukushima am 11. März war dann auch der Regierung in Tokio klar, dass die AKWs in Hamaoka nicht gegen eine solche Naturkatastrophe gerüstet waren. Also entschied Premierminister Naoto Kan im Mai, hier alle Reaktoren abzustellen. Es war weltweit das erste Mal, dass auch ein nagelneuer, problemfrei laufender Reaktor aus Sicherheitsgründen vom Netz genommen wurde.

Ohishi aber scheint das alles nicht zu beeindrucken. Müsste er sich heute nicht als Sieger über die Atomwirtschaft fühlen als derjenige, dem die Katastrophe in Fukushima endgültig recht gibt?

Allein im Atompark

Statt zu antworten, verweist Ohishi auf ein Straßenschild mit der Aufschrift "Yu Yu Land-Park". "Da fahren wir jetzt hin", sagt Ohishi. Wenig später hält er den Wagen auf dem für viele hundert Autos ausgelegten Besucherparkplatz der Atomanlage. "Yu Yu Land-Park" nennt sich das einem Freitzeitpark ähnelnde Besucherzentrum von Hamaoka. Der Name "Yu Yu" gehört dem Maskottchen der Anlage, einem orangen Manga-Wesen, das in Form einer Erdnuss ein Uranatom symbolisiert. Yu Yu taucht in zahlreichen Video- und Computerspielen auf, mit denen das Besucherzentrum Familien und Kinder lockt. Es entstammt einer nur wenige Monate zurückliegenden Zeit, in der kaum jemand in Japan Bedenken gegenüber der Atomkraft hegte. "Ich fand es immer komisch, dass hier gerade an Regentagen so viele Kinder spielten", sagt Ohishi.

Rasch durchschreitet er das Besucherzentrum, als wolle er nicht erkannt werden. In der Sky Lounge im obersten Stockwerk verweilt er schließlich. Noch einmal der Blick auf die monumentale Industrieanlage, neben ihr ein weiter grüner Golfplatz, dahinter das große rote Tor eines shintoistischen Schreins. "Die Leute hier waren immer stolz auf ihre Atomkraftwerke." Zum ersten Mal an diesem Tag kommt der wortkarge Ohishi etwas aus sich heraus. Er erzählt die Geschichte des roten Schreintors: wie es den AKW-Betreibern der Firma Chubu Electric gelang, die Bürger zu überzeugen, dass ihr Schrein ein neues Tor benötige, für das der Konzern anschließend zahlte.

Das sind die alten Geschichten, die Ohishi nicht vergessen kann. Neue Umfragen nach Fukushima aber besagen, dass heute 76 Prozent der Japaner den Ausstieg aus der Atomenergie befürworten. Doch Ohishi lässt das kalt: "In anonymen Umfragen waren auch früher schon 60 Prozent der Leute unserer Gegend gegen Atomkraft. Nur hat niemand etwas dagegen getan", sagt er.

Er nimmt kaum wahr, dass an diesem Tag nicht nur die Sky Lounge, sondern der ganze Freizeitpark fast menschenleer ist. Erst beim Mittagessen im Besucherrestaurant fällt ihm auf, dass er der einzige Gast ist. "Vielleicht wollen die Leute nach Fukushima ihre Kinder doch nicht mehr in einem Atomkraftwerk spielen lassen", überlegt er. An der Wand neben ihm aber steht ein Haiku des ehemaligen Vorsitzenden von Chubu Electric, Seiichi Tanaka: "Menschen spielen in der Natur, sie lächeln einander an: Es macht Spaß, die Wissenschaft zu studieren." Ohishi sagt dazu nichts, aber man hört ihn laut denken, wie er seine Mitbürger auch heute noch der Verharmlosung bezichtigt.

Kein Absatz mehr

Auf dem Rückweg in die Berge lässt der Regen nach. Bald öffnet Naomi Ohishi die Haustür eines schmucken Landhauses in wunderbar abgelegener Lage zwischen dem eindringlichen Grün von Tee- und Bambusbergen. Doch die Sorgen des Ehepaars Ohishi fangen hier erst an. Naomi holt ein Dutzend Päckchen ihrer teuren Bioteeware herbei. Es sind kunstvoll verzierte grüne und rosa Beutel, auf denen ihr Familienname steht. Sie verkaufen sich normalerweise an die besten Tokioter Teeläden.

Doch nicht in diesem Jahr. Teeblätter nehmen Radioaktivität besonders schnell auf. Schon zweimal wurde im Juni Tee aus Shizuoka mit erhöhten Cäsiumwerten gefunden. "Biokunden reagieren sehr sensibel auf Radioaktivität", umschreibt Ohishi das Problem. Seine Frau sagt es deutlicher: "Die Kunden rennen uns alle davon."

Kein Wunder also, dass der Teebauer Ohishi seinen moralischen Sieg als Atomkraftgegner über die AKW-Betreiber in seiner Nachbarschaft nicht feiern kann. Seine eigenen Befürchtungen haben ihn eingeholt. Die Katastrophe, das Cäsium aus Fukushima, ist bei ihm angekommen. Das allerdings will er natürlich nicht zugeben: "Unser Tee ist nicht verseucht. Das ist alles nur Gerede", sagt Ohishi. Aber er glaubt es wohl selbst nicht.

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