Sexualwissenschaft verschwindet: „Kaufleute entscheiden“

Die Sektion Sexualmedizin der Uniklinik Kiel wird aufgelöst, die Arbeit übernimmt eine Tochtergesellschaft – zum Teil. Der Sektionschef Bosinski kritisiert das

Schmeißt seinen Job bei der Uniklinik Kiel hin: der Kieler Sexualforscher Hartmut Bosinski. Bild: dpa

KIEL taz | Am Kieler Universitätsklinikum entscheiden „zunehmend Kaufleute“, statt bestmöglicher Hilfe für Patienten mit sexuellen Störungen, darunter auch Männer mit pädophilen Neigungen und Sexualstraftäter, gehe es nur um Geld: Der Kieler Sexualforscher Hartmut Bosinski erhebt heftige Vorwürfe gegen seinen bisherigen Arbeitgeber, das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH). Unter deren Dach leitet Bosinski seit 1997 die Sektion für Sexualmedizin. Nun steht die Auflösung der Sektion bevor – und der 57-Jährige wirft hin.

Denn in der neuen Form „werden unsere Patienten nicht sexualmedizinisch qualifiziert versorgt“, heißt es in einem Brief an die Leitung der Christian-Albrecht-Universität sowie das Kieler Bildungs- und Wissenschaftsministerium, der der taz vorliegt. Mit dem Ende der eigenständigen Sektion verschwindet ein weiterer Standort der wissenschaftlichen Sexualforschung.

„Das ist ein Paukenschlag“, sagt Hans-Werner Picker aus der Geschäftsführung des Zentrums für Integrative Psychiatrie (ZIP) in Kiel. An das ZIP, eine Tochtergesellschaft des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, soll die Sexualmedizin angegliedert werden. Diese Idee war im Februar an einem Runden Tisch geboren worden, an dem Vertreter von Universität, Uni-Klinik, AStA und Bosinski selbst teilnahmen.

Doch schon damals gab es Zweifel: Denn die Sexualmedizin in der bisherigen Form kostet im Jahr rund 155.000 Euro, von denen nur ein geringer Teil durch Drittmittel aus Forschungen wieder hereinkam. Daher gab es bereits unter der schwarz-gelben Regierung Bestrebungen, sie zu schließen. Dass es bei den aktuellen Plänen ebenfalls vor allem um Geld gehe, macht Bosinski unter anderem daran fest, dass das geplante „Konstrukt erkennbar nicht von Expertise in Sexualmedizin, sondern von Kosten“ bestimmt sei. Denn die designierte Leiterin, Aglaja Stirn, hat eine Stiftungsprofessur inne, die vom Krankenhauskonzern Asklepios bezahlt wird.

Picker widerspricht: „Die Professur ist unabhängig von den Aufgaben für das ZIP.“ Stirn werde im Rahmen der Professur eine festgelegte Zahl von Seminaren und Vorlesungen halten – und obendrein die Sexualmedizin am ZIP betreuen. Das ZIP geht davon aus, dass es künftig besser für Ratsuchende und Patienten wird. In den vergangenen Monaten wurde ein Konzept entwickelt, um die Sexualmedizin in das Zentrum zu integrieren.

So betreut und begutachtet das ZIP bereits Straftäter mit psychischen Störungen, darunter auch Sexualtäter. Für bestimmte Aufgaben hätten beide Organisationen sich bisher Konkurrenz gemacht. Vor allem: Das ZIP ist deutlich größer als die sexualmedizinische Sektion, die ab Juli nicht einmal mehr eine Sekretärin beschäftigen kann. „In einer Drei-Personen-Abteilung kann man nicht wirtschaftlich arbeiten“, sagt Picker. Hartmut Bosinski sei immer an den Plänen beteiligt gewesen, sein Rückzug sei überraschend: „Wir hätten uns gut die weitere Zusammenarbeit mit ihm vorstellen können.“ Unklar ist, wie es mit der Lehre weitergeht – Kiel gehörte zu den vier Standorten in Deutschland, an denen Sexualwissenschaft zumindest im Nebenfach studiert werden konnte.

Der Kieler AStA-Vorsitzende Steffen Regis kritisiert die Umstellung: „Eine so exzellent arbeitende Einrichtung nicht mit vollem Einsatz zu fördern, ist absolut inakzeptabel.“ Bosinski, der in seinem Brief erklärt, er sei an den Planungen nicht beteiligt gewesen, will im Herbst eine eigene Praxis in Kiel aufmachen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.