Sexuelle Belästigung bei der WM: Ich gehe dann doch

Mit 13 bekam unsere Autorin ihre erste BVB–Dauerkarte. Was sie damals lernte, gilt auch heute noch: Männlichen Fußballfans geht man besser aus dem Weg.

Ein Mensch trägt zusammengerollte Fahnen

„Verdammt, ich will, dass es möglich ist, auch allein als Frau Fußball zu gucken“ Foto: dpa

Ich habe das ewig nicht mehr gemacht. Public Viewing gehörte zu den Dingen, die ich auch nie wieder machen wollte. Aber kurz nachdem Toni Kroos die Deutschen mit einem Freistoß gegen Schweden im Turnier gehalten hatte, fragt mich ein Freund, ob ich Lust hätte, ihn zum Public Viewing zu begleiten, Deutschland gegen Südkorea auf Großleinwand. Ich sage zu. Dann kommt ihm ein Termin dazwischen, er könne das Spiel nicht bis zum Schluss mit mir gucken, sagt er. Aber wir könnten ja noch jemand anderen fragen, ob er mitkommt, damit ich später nicht allein sei.

Ich wohne noch nicht lange in Berlin und wüsste nicht, wen ich fragen könnte. Aber ich habe am Mittwoch frei und Lust, einmal auf der Fanmeile zu stehen, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kenne. Und außerdem, verdammt, will ich, dass es möglich ist, auch allein als Frau Fußball zu gucken. Deshalb gehe ich mit, auch weil ich nicht will, dass ich es wegen solcher Überlegungen lasse.

Am Eingang zur Fanmeile in Berlin verteilen junge Frauen in orangefarbenen T-Shirts aufblasbare Klatschstangen von Lieferando, immer zwei pro Person. Ich weiß nicht, wonach es klingen soll, wenn beide aneinanderschlagen, fröhlich hört es sich jedenfalls nicht an. Es klingt aggressiv. Die Höhner treten auf, aber das hier ist nicht Köln, es ist Berlin, und nur die wenigsten kennen die Texte. Der Moderator fragt, wer heute gewinnen wird, die „Deutschland“-Rufe sind rar und mager. Die Stimmung ist so träge wie das Wetter. Auf der Leinwand werden zwei Zuschauerinnen im Stadion in Kasan eingeblendet, die Männer hinter mir grölen, einer sagt: „Oh ja, Mäuschen.“

Ich gehe zum nächsten Getränkestand, bestelle zwei Bier, warte. Mir gegenüber steht ein Mann, seine Augen so blau wie sein Shirt. Er sucht meinen Blick, ich erwidere ihn nicht. Gucke überall hin, nur nicht zu ihm. Rechts von mir haben zwei junge Männer ihre Unterarme im 90-Grad-Winkel zu ihren Oberarmen auf die Theke gelegt, schieben sich vor und zurück. Einer guckt schräg auf mich herab. Ich nehme die zwei Bier und gehe, bevor er etwas sagen kann.

Knall. Viele um mich herum zucken zusammen. Irgendwo in der Nähe wird eine erste Lieferando-Klatschstange kaputtgetreten. Sie platzt unangenehmer als ein gewöhnlicher Luftballon, härter.

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Das Spiel schleppt sich dahin. Wolken fluffern sich immer mal wieder vor die Sonne, und die Deutschen schieben ein­ander mutlos den Ball zu. Ein Mann mit Irokesenperücke in Schwarz-Rot-Gold stellt sich vor mich, versperrt mir die Sicht.

Wir verlassen die Menge, suchen uns Sitzplätze in einem Bierzelt in der Nähe vom Eingang. Halbzeit. 0:0. Knall, knall, noch mehr Klatschstangen platzen. In der 75. Minute muss meine Begleitung gehen, ich sitze jetzt alleine an einem Tisch mit zwei langen Bierbänken. Ich bleibe, will das Spiel zu Ende gucken. Die Bank wackelt, und Deutschland erst. Wenn ich meinen Kopf ein Stück nach rechts bewege, sehe ich ihn. Breitbeinig sitzt er da, ein Ur-Schlandrianer, ein Helm mit Hörnern auf dem Kopf, eine Deutschlandkette um seinen Hals, Deutschlandschals an den Handgelenken. Er fängt meinen Blick auf, setzt sich aufrecht hin, er öffnet den Mund und atmet schwer, schwerer, stöhnt. Seine Lippen sind nass, und er schwitzt.

Ich schenkte dem BVB mein Herz, wie alle in meiner Stadt

Knall. Deutschland ist raus. Geschlagen von Südkorea mit 2:0. Die Masse schwappt von der Fanmeile wie Meereswellen ans Ufer. Niemand will seine Klatschstangen noch haben, sie werfen sie auf den Boden, zertreten sie. Knall, knall, knall, knall, knall.

Fünf Männer setzen sich zu mir, zwei neben mich, drei mir gegenüber. Ich überlege, mir auch noch ein Bier zu holen, weil ich gern noch bleiben würde. Mit Leuten über das Spiel reden, diskutieren, wer Weltmeister wird. So wie es wäre, wenn ich das Spiel nicht in Berlin gucken würde, sondern in Dortmund wäre, mit Freunden.

1995, mit vier Jahren, saß ich zum ersten Mal auf den Schultern meines Vaters am Borsigplatz in Dortmund. Der BVB war gerade nach fast 30 Jahren wieder Deutscher Meister geworden. Mein Vater zeigte auf die offenen Wagen, die vorbeifuhren, sagte: „Das ist Matthias Sammer, Hanna, und das ist Andi Möller.“

Ich merkte sie mir. Schenkte dem BVB mein Herz, wie alle in meiner Stadt. Mein erstes Mal im Stadion, es war das Jahr 2002, ich war 11, und der BVB wieder amtierender Meister. Er spielte gegen 1860 München im Westfalenstadion. Erst am Morgen des Spiels kauften meine Eltern die Karten, das wäre heute gar nicht mehr möglich. Es wurde an diesem Tag nicht die berühmte Südtribüne, aber das war mir egal, ich war selig. Mein Vater sprach zwei Männer vorn am Zaun der Nordtribüne an, fragte, ob sie noch Platz für einen jungen Fußballfan bei sich hätten. „Ja sichaaa“, sagten die Männer, schoben mich zu sich, sodass ich ganz vorne stand und alles sehen konnte, und sie passten das ganze Spiel über auf mich auf.

2005, ich war noch 13, wünschte ich mir meine erste Dauerkarte. Jeden zweiten Samstag verbrachte ich bis zum Studium auf Block 12 der Südtribüne, gemeinsam mit einer meiner besten Freundinnen. Manchmal begannen diese Tage morgens um 10, dann fuhren wir in die Stadt, verbrachten die Zeit im BVB-Fanshop und tauschten Neuigkeiten über unsere Lieblingsspieler aus, meiner war Tomáš Rosický.

Von dieser Zeit weiß ich noch, dass zu gehen, wenn alle gehen, keine gute Idee ist, denn das werden die schlimmsten U-Bahn-Fahrten. Ich bleibe mit den Männern im Bierzelt sitzen, wir sagen, so sei es nun einmal, es sei ja auch verdient, dieses Ausscheiden, und jetzt werde eben Brasilien Weltmeister. Oder Kroa­tien. Ein Marienkäfer krabbelt über meinen Oberarm Richtung Schulter. „Dein Haustier“, sagt einer der Männer. „Da wäre ich jetzt auch gerne“, sagt ein anderer, bei dem ich nicht weiß, ob er zu der Gruppe gehört. Ich wünsche den Männern einen schönen Abend und gehe dann doch.

Knall, knall, knall.

Ich sehe, wie zwei Männer, die etwa 20 Meter vor mir laufen, andeuten, einer Frau vor sich ihre Klatschstange in den Arsch schieben zu wollen. Sie pirschen sich so lange immer ein wenig näher an sie heran, bis sie sie mit der Stange kurz am Po berühren. Die Frau dreht sich nicht um, obwohl sie es gemerkt haben muss, sie fasst ihrer Freundin ums Handgelenk, und die beiden bleiben stehen, lassen die Typen vorbeilaufen. Knall, knall.

Ich achte immer darauf, in der Nähe von anderen Frauen zu laufen, von Paaren, Senioren, auch jetzt natürlich. Besoffene Männergruppen mache ich schneller ausfindig als der FC Bayern ein vielversprechendes Talent bei Borussia Dortmund. Über all die Jahre hat man sich antrainiert, mit toxischer Maskulinität in Fußballkontexten umzugehen, also mit Verhalten, das – wie etwa Unterwerfung von Frauen, die Fetischisierung von Gewalt – männlich konnotiert ist. Frauen und als nicht hegemonial identifizierte Männer müssen das perfektionieren, wenn sie sich für Fußball entscheiden. Mehr noch als anderswo, weil sie noch weniger als gleichwertig wahrgenommen werden. Weil sie noch weniger da sein sollen.

Einmal, ich war immer noch 15, höchstens 16, standen meine Freundin und ich wieder am Zaun, Südtribüne, Block 12. Es war heiß, und ich trug kurze weiße Shorts. Ich lauschte dem Gespräch der Menschen hinter mir, es waren Mutter, Vater, Sohn oder Tante, Onkel, Neffe, ich weiß es nicht. Ich spürte, wie die Hand des Jungen, der etwa so alt war wie ich, immer wieder über meine Shorts streifte, sich ein ums andere Mal ganz sachte um eine meiner Pobacken schließen wollte. Bis ich ihn dann sagen hörte: „Ich würde so gerne.“ Vernahm, wie ihm jemand auf die Schulter klopfte, wie der ältere Mann sagte: „Da mussten wir alle mal durch. Ich weiß, es ist hart, aber reiß dich zusammen.“ Die Frau, die dabei war, lachte. Ich tat, als hätte ich nichts gehört und nichts gespürt.

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Am Bahnhof Friedrichstraße vibriert mein Handy, ob ich etwas zum Anstoßen mitbringen könne. Schland ist raus. Knall, knall, knall. Spontan, ohne nachzudenken, gehe ich in den Edeka-Citymarkt. Ich bemerke es zu spät, ich bin schon durch die Eingangsschranken, als ich realisiere, dass ich da bin, wo ich nicht sein will. Die Luft steht im Raum, es stinkt nach Schweiß, nach Dreck und nach Alkohol.

Vor dem Kühlregal im äußersten Gang stehen einige Typen, betrunken, etwa im Abiball-Alter. Hätte ich es nicht eilig, würde ich warten, bis sie weg sind, in der Zeit ein paar Runden durch den Laden drehen. Aber weil ich nur weg will, spreche ich sie an, frage, ob ich mal an die Getränke herandürfe. „Na, selbstverständlich“, sagt einer von ihnen, legt den Arm um mich und schiebt mich vor das Bier. Ich schlage seinen Arm weg, beschimpfe ihn. Hinter meinem Rücken machen die Jungs Kussgeräusche.

Dann werden sie abgelenkt. Ein muskelbepackter Deutschlandfan im Trikot will an ihnen vorbei, einer sagt laut „Deutschland ist scheiße“, obwohl er und seine Freunde selbst Schlandketten tragen. Der andere, seine Muskeln so groß und rund wie Honigmelonen, sagt: „Fick dich.“ Sie bäumen sich voreinander auf, es soll wohl Spaß sein, aber es sieht nicht so aus, als ob den irgendjemand hätte.

Die Männer lachen aus voller Kehle

Mit seinen Freunden kommuniziert die Muskel-Glatze quer durch den Laden; als stünden sie auf einem Fußballplatz, rufen sie sich ihre Namen zu: „Micha, Dennis, Schröder, Dario …“, was sie kaufen wollen, „Wodka“, wo sie sind, „Kasse“. Sie sind zu viert, die Muskel-Glatze im weißen, die andere Muskel-Glatze im rot-schwarz-gestreiften Deutschlandtrikot, der Riese und der Kleinste von allen, der als Einziger keine Glatze trägt, sondern eine rote Sonnenbrille in den Haaren und dicke Socken in Turnschuhen. Die Schlangen an den Kassen sind lang, an diesem Edeka stranden alle, um ihre Frustgetränke zu kaufen. Der Muskel-Glatze in Weiß geht es nicht schnell genug, sie schüttelt die Beine aus, springt von einem Fuß auf den anderen. Spricht die Frau vor sich an, eine Mitfünfzigerin, die mit einer Stange Lauch, Klopapier und einem Sekt in den Armen an der Kasse steht.

Sie sagt, „ach je“, ringt sich ein Lachen ab und dreht sich von ihm weg, zur Kasse. Mit einem Haarreif hat sie sich ihre glatten dunkelrot gefärbten Haare zurückgesteckt. Die Muskel-Glatze legt die Hand ganz sachte da an, wo die Haare dem Hals entwachsen, greift hinein und gleitet einmal mit der Hand hindurch, bis er oben am Scheitel wieder rauskommt. Ich sage „ey“, und die Frau auch. Die andere Muskel-Glatze kommt hinzu, sagt, an der Schlange nebenan gehe es schneller. Doch sein Freund drückt sein Gesicht an die Stelle zwischen Hals und Schulter der Mitfünfzigerin, sagt, „Ich bin verliebt“, und beide Männer lachen aus voller Kehle. „Oh Gott“, sagt die Frau, nachdem die beiden weggetorkelt sind. „Das kann ja heute noch was werden.“

Als ich bezahle, höre ich, wie sie die Kassiererin an der Nebenkasse anbollern, ich verstehe nicht, was sie sagen, sehe nur, dass sie sich vor ihr aufbauen. Ich sage dem Sicherheitsdienst Bescheid, aber der ist bereits alarmiert, und ich verschwinde.

Vier Minuten muss ich auf die U6 Richtung Alt-Tegel warten. Ich höre sie schon lange, bevor ich sie sehe. Und weil solche Männer ein Radar für Frauen haben, die allein reisen, stehen sie kurz darauf vor mir, drei Flaschen Wodka, zwei Flaschen Energydrink unter die Arme geklemmt. Sie füllen die Mische an Ort und Stelle in ihre Pappbecher, etwa die Hälfte schwappt daneben. „Kann ich mich neben dich setzen?“, fragt die Ober-Glatze und zeigt auf den freien Platz rechts von mir. Ich nicke nur. „So schöne Augen hast du“, lallt er, wirft seinen massigen Körper zur Hälfte auf seinen, zur Hälfte auf meinen Sitz. Mein Körper reagiert, wie er in solchen Momenten immer reagiert. Meine Handflächen werden feucht, ich schlucke häufiger, als ich das sonst muss. Und meine Stimme, als ich mich beschwere, klingt, als hätte ich gerade geheult.

Wir fanden das normal

Ich stehe auf. Viele gucken zu uns rüber, ich tue, als ob ich jemanden suchen würde. Und suche tatsächlich nach Halt, nach Augen. Ein junger Mann erwidert meinen Blick, er lächelt schwach und stellt sich zwischen die Männer und mich, auch wenn er nicht einmal so viel wiegen dürfte wie der Oberkörper von einem der anderen vier.

Ich steige ein, die Männer auch, und der Gedanke, der mir automatisch kommt: „Wenn die an meiner Station aussteigen, fahre ich weiter.“ Oder ich steige aus und rufe sofort die Polizei. Aber haben die eigentlich irgendwas gemacht, was so richtig strafbar wäre?

Früher, im Westfalenstadion, legten einige Männer uns die Arme um die Schultern, wenn wir an ihnen vorbeigingen, sagten: „Bleibt doch bei uns.“ Manche pressten sich von hinten an uns. Das legte sich, als wir begannen, in größeren Gruppen ins Stadion zu gehen. Und kehrte zurück, wenn wir zu zweit oder allein unterwegs waren. Je älter wir wurden, desto mehr wehrten wir uns, wendeten uns auch mal an die Ordner. Aber meistens passierte nicht viel. Wir feierten trotzdem, die Meisterschaft 2011, den Double­sieg 2012, das Champions-League-Finale 2013, den DFB-Pokalsieg 2017. Es ist noch nicht lange her, dass ich meine Freundin zum ersten Mal fragte, warum wir damals, nie darüber geredet haben. Uns ist nur ein Grund eingefallen. Wir fanden das normal.

Die Männer steigen eine Station vor meiner aus. Sie sehen mich noch, als sie an dem Fenster vorbeilaufen, hinter dem ich sitze. Der Massigste von ihnen grinst, dann spuckt er gegen die Scheibe.

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