Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe des IS: Die verschwundenen Frauen

Die fanatisierten Kämpfer des Islamischen Staates haben Hunderte von Jesidinnen verschleppt. Berichte über Vergewaltigungen häufen sich.

Am Stadtrand von Mossul im August: eine jesidische Familie auf der Flucht. Bild: reuters

ISTANBUL taz | Als die Kämpfer des Islamischen Staates sein Dorf überfielen, steckte Ali so viele Leute, wie es ging, in sein Auto und ergriff die Flucht. Der Rest der Familie machte sich zu Fuß auf den Weg. Aber sie kamen nicht weit. Eine Gruppe Bewaffneter umstellte die Flüchtenden, trennte die Männer von den Frauen. Die Frauen wurden abtransportiert, was mit den Männer passierte, weiß niemand.

So hat die 20-jährige Schwester Alis ihrem Bruder geschildert, was an jenem Tag Anfang August passierte, als die islamistischen Fanatiker ihr Dorf in der Sindschar-Region westlich von Mossul überrannten. Nur 7 der 19 Familienangehörigen Alis, dessen vollen Namen wir zum Schutz seiner Familie nicht nennen sollen, haben die Flucht geschafft. Sie leben heute in einem Lager für Vertriebene in der Nähe der kurdischen Provinzhauptstadt Dohuk.

Von dort ruft er seine Schwester an. Ein Mann nimmt ab, beschimpft Ali, lacht und höhnt: „Sag deinem Bruder, was wir mit dir machen, sag ihm, welchen Spaß wir mit dir haben.“ Die Zwanzigjährige muss nichts sagen. Jeder im Irak versteht, was die Andeutungen bedeuten: Der Unbekannte vergewaltigt das Mädchen.

Es ist eine Demütigung für das Mädchen und für die Familie. Und es ist ein Sadismus, wie ihn selbst die Iraker, die in den vielen Kriegen der letzten Jahrzehnte ein Übermaß an Gewalt und Brutalität erlitten, bisher nicht erlebt haben. Aufgezeichnet hat das Gespräch Falah Murad von der deutschen Hilfsorganisation Wadi, die in Kurdistan seit mehr als zwei Jahrzehnten Projekte zur Unterstützung von Frauen betreibt. „Es ist eine Tragödie von unvorstellbarem Ausmaß“, sagt Murad. „Es gibt kaum Worte, um zu beschreiben, was den Jesiden angetan wird.“

Kein Einzelfall

Das Schicksal der Schwester Alis sei kein Einzelfall. Viele der Vertriebenen hätten von ähnlichen Telefonaten berichtet, sagen die Helfer. „Unser Eindruck ist, dass Daash (der IS) die Frauen zwingt, diese Gespräche zu führen“, sagt Murad. „Sie wissen genau, dass es für sie, aber auch für die Familien kaum eine schlimmere Strafe gibt.“

Dass es die Fanatiker darauf anlegen, die sexuelle Gewalt öffentlich zu machen, ist nicht auszuschließen. Bisher galt in Kriegen die Regel, dass die Täter ihre Verbrechen verheimlichen oder zumindest vertuschen wollen. Als Propaganda von Gegnern der Islamisten haben sich in vielen Fällen auch Berichte über Frauen entpuppt, die sich den Extremisten anschließen, um ihnen sexuell zu dienen.

Doch in diesem Fall liegen die Dinge anders. Der IS brüstet sich mit Massakern. Und es sind nicht etwa ihre Gegner, sondern die Extremisten selbst, die Bilder von Massakern an irakischen und syrischen Soldaten verbreiten. Menschenrechtler und Mitarbeiter internationaler wie lokaler Hilfsorganisationen, mit denen die taz in den letzten Tagen gesprochen hat, zeichnen ein ähnliches Bild wie Murad.

Wie viele Frauen und Mädchen der IS verschleppt hat, weiß bisher niemand genau. Auf 3.000 bis 5.000 schätzen Vertreter der Jesiden die Zahl der vermissten Frauen, Mädchen, Alten, Gebrechlichen und Kinder. Christine van den Toorn, die an der Amerikanischen Universität in Sulaimanija lehrt und in den letzten Wochen unter jesidischen Flüchtlingen recherchiert hat, geht von mindestens 1.000 verschleppten Frauen und Mädchen aus. „In jeder Familie, die ich getroffen habe, wird mindestens eine Frau vermisst“, sagt sie. „Es gibt Familien, in denen alle weiblichen Angehörigen verschwunden sind.“

Alle Männer wurden massakriert

Van den Toorn bestätigt, was Alis Schwester und andere Jesiden berichten: Die IS-Kämpfer trennten die Jesiden nach Geschlechtern und brachten die Männer systematisch um. In mehreren Dörfern seien alle Männer massakriert worden, die über zwölf Jahre alt waren. „In einer Familie, die in ein Dorf in den Sindschar-Bergen floh, hat nur ein Jugendlicher überlebt, weil er sich tot stellte. Von seiner Mutter, seinen Schwestern und Dutzenden seiner Tanten fehlt jede Spur“, sagt die Nahost-Historikerin. Aus einem einzigen Quartier in Chansur, der größten Stadt an der Nordseite der Sindschar-Berge, wurden 63 Personen verschleppt.

Die IS-Männer sperrten die Frauen und Mädchen zuerst im Badusch-Gefängnis bei Mossul ein, aus dem sie im Juni Hunderte von Terrorverdächtigen befreit hatten, oder sie hielten sie in der Zementfabrik von Tel Afar und an anderen Orten in der Gegend um Mossul fest.

Die Jesidinnen sind nicht die Einzigen – auch Christinnen und Angehörige von schiitischen Minderheiten im Nordirak landeten in den „Gefängnissen“. Aber die Jesidinnen sind die große Mehrheit, was darauf hindeutet, dass die Verschleppung der Frauen und Mädchen Teil des systematischen Feldzugs der IS-Fanatiker gegen die religiöse Minderheit ist.

In der verqueren Ideologie der IS-Extremisten stehen die Jesiden ganz unten, und die jesidischen Frauen gelten als legitime Beute im Kampf gegen die „Ungläubigen“. Den jesidischen Frauen bleibt danach nur Bekehrung – in diesem Fall stellen die Islamisten ihnen die Ehe mit einem „Gläubigen“ in Aussicht – oder Sklavendienst. „Alle zwei, drei Tage kommen bei uns ein oder zwei Mädchen an, die Opfer von Massenvergewaltigungen wurden“, sagt der jesidische Vertreter Othman. Andere Frauen und Mädchen werden verkauft. 300 Frauen ist es nach Informationen der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, die in Großbritannien sitzt, so ergangen. In 27 Fällen lägen detaillierte Beweise vor.

200 Dollar

Aktivisten in Sindschar hätten berichtet, dass in Mossul vor wenigen Tagen Hunderte von Mädchen für jeweils 200 Dollar verkauft wurden. Solche Informationen sind extrem schwer zu überprüfen. Das sagt auch auch van den Toorn. Die Berichte würden sich jedoch häufen. „Ich habe den Eindruck, dass sie die Frauen loswerden sollen.“

Frei erfunden sind die Berichte über den Frauenhandel sicher nicht. Es gibt in Kurdistan Initiativen, um die Mädchen freizukaufen. In der Hoffnung, sie zu retten, beteiligt sich daran nach Auskunft von Othman auch die kurdische Regionalregierung.

Das Fatale daran ist, dass solche Projekte offenbar Menschenhändler auf den Plan gerufen haben – der Irak gilt seit Langem als eines der Länder, in dem Kriminelle leichtes Spiel im Frauenhandel haben. In Bagdad hängen große Plakate, mit denen die Regierung die Öffentlichkeit für das Verbrechen sensibilisieren will. Einige unlautere arabische Geschäftsmänner hätten das Geld kassiert und seien abgetaucht, sagt Othman. Freilich dürften für den IS finanzielle Motive nicht im Vordergrund stehen – der Ölschmuggel, Schutzgelder oder die Entführung von Europäern spülen ihnen weitaus höhere Summen in die Kassen.

Vielmehr ist die sexuelle Gewalt für sie eine Kriegswaffe, um unter den Jesiden Terror zu verbreiten. Ob die Berichte über Vergewaltigungen, Zwangsheiraten oder Frauenhandel stimmen, sei nicht der einzige Punkt, sagen die Fachleute. Wichtig sei auch, was dies für eine mögliche Rückkehr der Frauen und Mädchen zu ihren Familien bedeutet. Denn die Jesiden haben zwar eine eigene Religion und eigene Kultur, aber in puncto Frauenrechte sind sie so konservativ wie ihre muslimischen Nachbarn, ob Kurden oder Araber: Auch sie ermorden Frauen, die außerehelichen Sex haben. Ob sie vergewaltigt wurden, spielt auch für die Jesiden keine Rolle.

Mit Zementblöcken totgeschlagen

Im Irak haben viele das Schicksal der jungen Dua nicht vergessen, die vor sieben Jahren ermordet wurde. Männliche Angehörige hatten die 17-Jährige mit Zementblöcken totgeschlagen, weil sie sich in einen sunnitischen Araber verliebt hatte. Die Selbstmordrate unter den Jesidinnen in der Sindschar-Region ist seit Jahren extrem hoch. Sehr häufig werden Frauen jedoch von den eigenen Familien in den Freitod getrieben, wie Frauenorganisationen betonen. Von einer tickenden Zeitbombe spricht Thomas von der Osten-Sacken von der Hilfsorganisation Wadi.

Auch andere internationale wie lokale Organisationen und Initiativen haben im letzten Jahrzehnt viel getan, um Frauen zu mehr Rechten oder auch Schutz vor Gewalt zu verhelfen. „Aber hier kommt etwas auf Kurdistan zu, auf das niemand vorbereitet ist“, warnt der Wadi-Mitarbeiter. Schon jetzt gibt es Fälle von ungewollten Schwangerschaften und Familien, die sich weigern ihre Schwestern oder Töchter wiederaufzunehmen.

Die UNO und die Regionalregierung sind schon von der enormen Menge der Hunderttausende Flüchtlinge überfordert. In den Lagern fehlt es oft am Nötigsten. Die meisten jener, die vor den IS-Extremisten geflohen sind, leben aber gar nicht in Camps, sondern in Schulen, Rohbauten oder unter Brücken verstreut in einer Region, die sich über Hunderte von Kilometern erstreckt. „Wir müssen der akuten Not Abhilfe schaffen, gleichzeitig müssen wir mit diesen traumatischen Erfahrungen fertig werden“, sagt der Jeside Othman. „Wir brauchen alles und alles zugleich: Unterkünfte, Sozialarbeiter und Therapeuten. Es ist ein Albtraum.“

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