Sexuelle Gewalt in der Leichtathletik: Massive Schutzlücken im System
Kurz vor der Weltmeisterschaft in Tokio muss sich der deutsche Verband mit Missbrauchsfällen auseinandersetzen, die eine ZDF-Doku offenlegt.

Große Vorfreude auf die Weltmeisterschaft in Tokio verspürt Malaika Mihambo. Das war die Top-Meldung auf der Website des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) am Dienstag, die unter der Rubrik Flash News ganz oben aufgeführt wurde. Klar, es gilt, positive Stimmung vor dem Großereignis zu verbreiten. Am Samstag beginnen die ersten Wettkämpfe. Und wer wäre dafür geeigneter als die deutsche Vorzeigeathletin, die im August 2021 am selben Ort im Weitsprung Gold gewann.
Konkrete Hinweise auf das große Thema, mit dem der DLV sich in den vergangenen Wochen vor der WM befassen muss, die Missbrauchsfälle minderjähriger Sportlerinnen und Sportler, gibt es auf dem verbandseigenen Portal aber nicht zu finden. Lediglich ein Link am Ende der Flash News „Zentrale Fragen zum DLV-Schutzkonzept“ lässt erahnen, dass es da ein grundsätzliches Problem gibt.
Konkret hat das gerade die Redaktion von ZDF-„Frontal“ in der Dokumentation „Gold, Silber, Machtmissbrauch – die dunkle Seite der Leichtathletik“ offengelegt und Fälle aus Darmstadt, Hannover, Mannheim und Berlin zusammengetragen.
Mit der 400-Meter-Hürdenläuferin Eileen Demes hat auch eine prominentere Sportlerin von ihren Erfahrungen berichtet. Für die anstehende WM qualifizierte sich die 27-Jährige Ende Juli beim Istaf in Berlin mit persönlicher Bestzeit (54,29 Sekunden) und wurde kurz darauf in Dresden zudem Deutsche Meisterin. Im Alter von 17 Jahren, erzählte Demes, erhielt sie von ihrem auf die 50 Jahre zugehenden Trainer unangemessene Textnachrichten. Und von seinem Geburtstag berichtete sie: „Da hat er gesagt, dass er mich liebt. Dass er es schön fände, jeden Tag neben mir aufzuwachen, er würde mich sofort heiraten. Das war für mich unangenehm.“
Gefühl der Ohnmacht
Andere Leichtathletinnen zeigten dem ZDF ebenfalls übergriffige Textnachrichten, die sie von ihren Trainern erhielten, und erzählen von körperlichen Übergriffen: „Er wollte, dass ich mich ausziehe. Und daraufhin hat er sich ausgezogen. Und hat mich dann angefasst.“ Sie beschrieben ihr Gefühl der Ohnmacht, weil sie ihre sportliche Karriere nicht aufs Spiel setzen wollten.
Im Zuge der ZDF-Recherchen hat der DLV im Fall eines niedersächsischen Landestrainers ein Verfahren zum Entzug der A-Lizenz eingeleitet. Der Landesverband hat Strafanzeige gegen den Mann gestellt. Der Trainer selbst streitet alle Vorwürfe ab.
Kerstin Claus, die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, sagt: „Aus meiner Sicht hat der Sport massive Schutzlücken. Das liegt genau auch daran, dass Tatpersonen, die letztlich das Ziel der sexuellen Ausbeutung haben, sehr leicht in einen anderen Verband wechseln können.“ Dieses Problem legt auch die ZDF-Doku an konkreten Beispielen offen.
Der DLV selbst weist darauf hin, dass es ihm aus personen- und datenschutzrechtlichen Gründen juristisch nicht möglich ist, problematische Fälle, die unter der Strafbarkeitsschwelle bleiben, zu dokumentieren und ein Warnsystem aufzubauen.
Wortreich hat der DLV als Reaktion auf die ZDF-Recherche seine grundsätzliche Haltung hervorgehoben: „Der Schutz der Athletinnen und Athleten hat für uns allerhöchste Priorität. Missbrauch im Sport ist ein zutiefst erschütterndes Vergehen, das für uns alle unvereinbar mit den Werten des Sports ist. Kinder und Jugendliche verdienen unseren besonderen Schutz, denn sie sind uns anvertraut und auf unser verantwortungsbewusstes Handeln angewiesen.“
Wenn es darum geht, diese konkreten Geschichten selbst in den Vordergrund zu rücken und ihnen Bedeutung zu verleihen, hält sich der Verband eher wortkarg zurück. Irritierend war ebenso der Umgang des DLV mit der ZDF-Redaktion. Für die Deutschen Meisterschaften in Dresden, wohin der TV-Sender seine Protagonistin Eileen Demes begleiten wollte, wurde keine Drehgenehmigung erteilt. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der DLV den Themen eher hinterherzulaufen scheint als diese selbst zu setzen. Eine transparente verbandsinterne Aufarbeitung der Missbrauchsfälle wäre nun für die Verbesserung von Präventionskonzepten hilfreich.
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