Sexuelle Übergriffe von Köln: Ein halbes Jahr nach Silvester

Köln wurde zum Symbol für Ängste und eine gescheiterte Willkommenskultur. Was wissen wir heute darüber, was dort passiert ist?

Polizisten am Kölner Hauptbahnhof im Januar 2016

Die Kölner Domplatte wurde nach Silvester zur Projektionsfläche Foto: dpa

KÖLN taz | Der Mann sah „südländisch“ aus, das sei ihr so­fort aufgefallen, sagt Jennifer D. am vergangenen Donnerstag vor dem Kölner Amtsgericht. Er quatschte sie vor dem Dom an, sagte, er wolle ein Foto mit ihr und ihrer Freundin. Jennifer D.s Verlobter machte eines. Kurz danach kam noch einer, auch er wollte ein Foto mit den beiden jungen Frauen. Jennifer D. ist 27, zierlich, hat lange blonde Haare. Sie knetet ihre Hände beim Erzählen. Dann versagt ihre Stimme, sie weint.

Immer mehr Männer kamen, zehn, fünfzehn, umzingelten sie, sagten etwas von „Ficken“ und „Sex“. Einer packte sie am Hintern, ein anderer griff ihr in den Schritt. Ein Typ nahm ihre Freundin Lena S. in den Schwitzkasten, leckte ihr übers Gesicht. Jennifer D.s Verlobter wurde bedroht: „Give me the girls oder tot.“ Irgendwie gelang es Jennifer D., sich aus der Gruppe herauszuwinden und auch ihre Freundin zu befreien. Sie rannten weg. Zurück ins Hostel, das die Siegburger für die Silvesternacht gebucht hatten.

Erst eine gute Woche später erstatteten Jennifer D. und Lena S. Anzeige. Da war die Kölner Silvesternacht schon weltweit in den Schlagzeilen. Was Jennifer D. und Lena S. nicht ahnten: Die Handyfotos mit den Tätern wurden zum Glücksfall für die Ermittler, ein seltenes und stichfestes Beweismittel.

Der 26-jährige Hassan T. und der 20-jährige Hussein A. werden zu einjährigen Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt. Das Gericht sieht es als erwiesen an, dass der Jüngere der beiden, ein irakischer Flüchtling, Lena S. sexuell genötigt hat. Der Ältere, ein Algerier, lebt seit eineinhalb Jahren in einer Asyl­un­ter­kunft in Kerpen bei Köln. Weil er nicht eingriff, wird er wegen Beihilfe zu sexueller Nötigung verurteilt. Und wegen versuchter Nötigung, weil er Jennifer D.s Verlobten bedrohte.

Es war dunkel, eng, chaotisch

Ein halbes Jahr nach der Silvesternacht wird damit zum ersten Mal ein sexueller Übergriff geahndet. Ausgerechnet an jenem Tag, an dem der Bundestag beschließt, das Sexualstrafrecht zu verschärfen. Die Kölner Prozesse haben die Reform beschleunigt.

„Köln“ ist schnell zur Chiffre geworden. Man muss nur den Namen der Stadt nennen, und in den Köpfen passiert etwas. Köln, ein Symbol für den Kampf der Kulturen, für die Gewalt gegen Frauen, dafür, dass wir es doch nicht schaffen? Die Debatte ist aufgeladen, und in Nordrhein-Westfalen ist Wahlkampf. Was wissen wir heute darüber, was dort passiert ist? Und was folgt daraus?

Die Opfer erkennen die Männer nicht wieder. Es war dunkel, eng, chaotisch

Der Urteilsspruch in den Fällen von Jennifer D. und Lena S. kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beweislage zu den sexuellen Übergriffen erschreckend dünn ist und wohl auch bleiben wird. Erst zwei Verfahren gab es dazu vor dem Amtsgericht – angesichts von 491 Strafanzeigen, angefangen von Beleidigung bis hin zu Vergewaltigung, ist das sehr ­wenig.

In einem ersten Verfahren An­fang Mai musste der Vorwurf der sexuellen Nötigung wieder fallen gelassen werden, weil das Opfer den Angeklagten nicht wiedererkannte. Und das ist das Hauptproblem: Die Opfer erkennen die Männer, die sie bestohlen oder begrapscht haben, nicht wieder. Es war dunkel, eng, chaotisch – die Frauen wollten einfach nur weg.

Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln dämpft daher seit Monaten die Erwartungen an die Justiz: „In den gravierendsten Fällen, also bei Vergewaltigungen, haben wir bislang keine Verdächtigen“, sagt er. Insgesamt 1.000 Stunden Videomaterial hat die „Soko Neujahr“ ausgewertet, stark ver­pixelte Aufnahmen aus der dunklen Bahnhofshalle. „Super-Recognizer“ unterstützten sie, besonders geschulte Fahnder, die auch auf schlechten Videoaufnahmen Personen erkennen können. „Die Ermittler haben sogar den Weg der Opfer durch den Hauptbahnhof nachverfolgt, und ihnen dann Videosequenzen von verschiedenen Orten gezeigt“, sagt Bremer. Doch vergeblich, die Frauen erkannten keine Gesichter.

Wie sie sich verabredet haben, bleibt unklar

Anfangs arbeiteten 150 Leute bei der „Soko Neujahr“, jetzt sind es noch 17. Sie werten weiterhin vor allem Handyverbindungen aus – noch immer die besten Beweise: Handys lassen sich orten, ihr Verkauf durch Seriennummern belegen. Damit lassen sich Diebstahl und Hehlerei nachweisen. Aber eben keine sexuel­len Übergriffe.

Insgesamt laufen gegen 215 Beschuldigte Ermittlungsverfahren, in 43 Fällen auch wegen sexueller Gewalt. Nur drei Verdächtige sitzen wegen ­einer Sexualstraftat in Untersuchungshaft. Zwei Drittel der Tatverdächtigen stammen aus Nordafrika, bei der Hälfte ist der Aufenthaltsstatus ungeklärt.

Seit Jahren kümmert sich bei der Kölner Polizei ein speziell geschultes Team um das „Maghrebmilieu“, sammelt die Daten nordafrikanischer Straftäter in einer eigenen Datei namens „Nafri“. Was viele erstaunte: Es gibt keine Überschneidungen mit den Tätern der Silvesternacht. Das heißt, die meisten Beschuldigten stammen nicht aus der Kölner Antänzerszene, sie sind erst im Herbst oder Winter 2015 nach Deutschland eingereist. An Silvester kamen sie aus verschiedenen Städten Nordrhein-Westfalens nach Köln.

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Wie sie sich verabredet haben, ist immer noch ein Rätsel. Auch im Verfahren von Jennifer D. und Lena S. konnte nicht geklärt werden, ob und woher die Angeklagten sich kannten und was sie auf die Domplatte geführt hatte.

Es gibt bis heute keine Hinweise auf ein organisiertes Verbrechen oder auf einzelne Drahtzieher. Alles deutet darauf hin, dass sich die Männer spontan zu Gruppen zusammenschlossen. Um mehr zu erfahren, werten die Ermittler auch soziale Medien aus, lassen Chatverläufe aus dem Arabischen übersetzen.

Dass das, was Jennifer D. und Lena S. passiert ist – Küssen, Begrapschen und Lecken übers Gesicht –, als sexuelle Nötigung eingestuft wurde, ist erstaunlich. Solche Übergriffe galten bisher meist als nicht erheblich, sagt Martina Lörsch vom Deutschen Juristinnenbund. Die Bonner Rechtsanwältin engagiert sich seit Jahren für den Schutz von Gewaltopfern. „Da alle Sexualdelikte mit recht hohem Strafmaß geahndet werden – das Minimum ist ein halbes Jahr Freiheitsstrafe –, zögern die meisten Gerichte, hart zu urteilen.“

Sie erkannte ihn in einem Fernsehbeitrag

Mit der Reform des Sexualstrafrechts dürfte sich das ändern. Dann könnte etwa das neue Delikt „sexuelle Belästigung“ greifen und künftig eine Geldstrafe verhängt werden. Auch der umstrittene neue Tatbestand „Straftaten aus Gruppen“ wird dann gelten – danach macht sich strafbar, wer mit anderen ein Opfer „bedrängt“, um Straftaten zu begehen.

Allerdings: All das löst keine Beweisprobleme. Auch weiterhin wird die Verurteilung von Sexualdelikten häufig daran scheitern. Daher warnt Rechtsanwältin Lörsch vor „populistischen Hoffnungen, die nicht erfüllt werden können.“

Wie lange die juristische Aufarbeitung der Silvesterübergriffe noch dauern wird, kann niemand sagen. Es gibt Dutzende DNA-Proben von Tatverdächtigen. Theoretisch können also auch noch Jahre später durch den Abgleich genetischer Spuren Täter gefunden werden. Aber sehr wahrscheinlich ist das nicht.

In zwei Verfahren zu sexuel­ler Nötigung in der Silvesternacht stehen die Entscheidungen des Kölner Amtsgerichts noch aus. Wann sie verhandelt werden, ist ungewiss. Einer der beiden Fälle ging unter dem Namen „Mehdi“ durch die Presse. Der gleichnamige Marokkaner war einige Tage nach Silvester als Taschendieb festgenommen und zu Jugendarrest verurteilt worden.

Eine Studentin erkannte den 19-Jährigen in einem Fernsehbeitrag über die Kölner Antänzerszene als einen der Männer, der sie an Silvester attackierte. Bleibt zu hoffen, dass sie im Gerichtssaal die Erinnerung nicht im Stich lässt.

Sogar Jennifer D. zögerte, konnte den Angeklagten im Gericht nicht „hundertprozentig“ als den Mann identifizieren, der ihre Freundin Lena S. so massiv bedrängt hatte. Gäbe es die Fotos auf dem Handy ihres Verlobten nicht, hätte es auch in diesem Fall heißen müssen: Im Zweifel für den Angeklagten.

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