Sexueller Missbrauch im Boxsport: #CoachDontTouchMe

Der Deutsche Box-Verband ist dabei, etwas gegen sexualisierte Gewalt zu tun. Bisher hat man davon noch nicht viel gemerkt.

Eine Frau mit blauen Boxhandschuhen links kämpft gegen eine Frau mit roten Boxhandschuhen rechts.

Sie kämpt nicht nur im Ring: Sarah Scheurich, 25, führt eine Kampagne gegen sexuelle Gewalt im Sport Foto: dpa

Es war eine Begegnung der besonderen Art. An der Ostsee in Warnemünde am 8. September bei den Deutschen Meisterschaften. Die Beteiligten: die Mittelgewichtsboxerin Sarah Scheurich und der Boxtrainer Christian Morales. Er war der Grund, warum aus Scheurich eine prominente Aktivistin im Kampf gegen sexualisierte Gewalt im Sport wurde, warum sie mit der Faustkämpferin Joelle Seydou im Januar in den sozialen Netzwerken die Kampagne #CoachDontTouchMe ins Leben gerufen hatte. Und nun präsentierte sich Morales der 25-Jährigen auf dem Weg in den Ring zu ihrem Titelkampf mit einer ganz speziellen Oberbekleidung. Mit dem Rücken zu ihr hatte er sich aufgestellt. „#CoachDontTouchMe“ stand auf der Hinterseite des schwarzen T-Shirts in weißen Lettern.

„Das war vermutlich der Versuch, mich zu verunsichern“, sagt Scheurich, die von dieser Begegnung vor ihrem Titelgewinn berichtet. Morales sagt nichts. Eine Anfrage der taz ignoriert er. Im Dezember 2016 wurde Morales wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt. Aussagen einer Boxerin und Freundin von Scheurich hatten dazu geführt. Im September 2017 stellte die Staatsanwaltschaft Schwerin die Ermittlungen jedoch ein. Im Einstellungsschreiben mutmaßte die Staatsanwaltschaft, es könnte zu einvernehmlichen, aus ihrer Sicht strafrechtlich nicht relevanten sexuellen Handlungen des Trainers mit der damals 17-Jährigen gekommen sein. Morales bestreitet auch das. Unbestritten ist, dass er mit der minderjährigen Athletin auf einem Lehrgang in Polen ein Hotelzimmer geteilt hat.

Allein dieser Umstand wirft jede Mengen Fragen auf. Wie kann so etwas im Deutschen Boxsport-Verband (DBV) möglich sein? Warum haben andere Trainer und Mitwisser geschwiegen? Welche Konsequenzen wurden gezogen? Und es stellt sich die Frage, wie kann sich Morales so unangreifbar unter den Boxern bei den Deutschen Meisterschaften fühlen, dass er vor so einem Auftritt nicht zurückschreckt?

Reine Alibipolitik

Sarah Scheurich beklagte schon Ende Mai, es habe sich nichts getan. Nicht den Hauch der Unterstützung habe man für die Kampagne #CoachDontTouchMe erhalten. Von den Männern des DBV sei lediglich die Verbandsärztin auch zur Frauenbeauftragten bestimmt worden. Die Sportlerinnen seien bei der Entscheidung nicht miteinbezogen worden. Scheurich sprach generell von „reiner Alibipolitik“ und trat von ihrem Amt als Aktivensprecherin zurück.

Gut zwei Monate später teilte der DBV über seine Homepage mit, Nadine Apetz sei zur Nachfolgerin von Scheurich gewählt worden. Gewählt? Die Verbandsfunktionäre hätten sie gefragt, ob sie das Amt nicht übernehmen wolle, räumt Apetz ein. Dann habe sie wiederum in der WhatsApp-Gruppe des Na­tionalkaders und der Nachwuchssportlerinnen gefragt, ob sich die Aktiven das auch vorstellen könnten.

Apetz ist sehr um Ausgleich bemüht. Einerseits hält sie fest, im Verband sei in der Vergangenheit des Öfteren über die Köpfe der Sportlerinnen hinweg entschieden worden, andererseits, gibt sie zu bedenken, trügen auch die Boxerinnen Verantwortung dafür, dass die Kommunikation besser wird. Scheurich sei etwas „blauäugig“ an die Sache herangegangen. „Man kann Satzungen und Regelwerke nicht einfach so schnell umschreiben. Wir sind schon auf einem guten Weg. Die Satzung wurde gerade auf dem letzten Kongress des DBV Anfang Oktober verändert.“ Alle Trainer müssten künftig einen sogenannten Ehrenkodex unterschreiben. Bei Verstößen kann die Lizenz entzogen werden. Das Vorlegen eines erweiterten Führungszeugnisses ist für Trainer obligatorisch.

Jürgen Kyas, Präsident des DBV, auf eine taz-Anfrage

„Ich kann zwischen uns keinen Gesprächsbedarf erkennen und lehne jegliches Gespräch mit Ihnen ab“

Die Frauenbeauftragte Angelika Fischer sagt, man habe sich bei allen vorgenommenen Schritten an die Handlungsempfehlungen der Deutschen Sport-Jugend (DSJ) gehalten. Sie weist darauf hin, dass auch die Jungs vor sexualisierter Gewalt geschützt werden müssen. Ein wichtiger Hinweis, gerade in einem so männerlastigen Verband. Von den gut 82.000 Mitgliedern sind lediglich etwa 21.500 Frauen. Man ist offensichtlich bemüht, alles richtig zu machen, und arbeitet die Empfehlungen des DSJ gewissenhaft ab. Das ist auch deshalb ratsam, weil der Dachverband, der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB), im Zuge seiner Spitzensportreform die Verteilung von Fördergeldern an die einzelnen Verbände mit Schutzmaßnahmen gegen sexualisierte Gewalt verknüpft hat.

Scheurich sagt, vieles von dem, was nun doch noch vollzogen wurde, habe sie bereits in den ersten Monaten des Jahres vorgeschlagen. Die Empfehlungen des DSJ habe sie einer Mail, die nie beantwortet wurde, angehängt. „Im Verband werde ich nicht ernst genommen. Für die bin ich das kleine Mädchen, das boxt.“

Mehrmals ist Scheurich von den Verbandsverantwortlichen ermahnt worden, ihre Kritik doch erst einmal intern zu äußern und ihre Anliegen nicht über die sozialen Netzwerke voranzutreiben. Es scheint so, als ob sich der DBV im Umgang mit sexualisierter Gewalt möglichst geräuschlos unangreifbar machen möchte.

Entsprechend abweisend reagiert DBV-Präsident Jürgen Kyas auf eine Anfrage der taz, sich über die Kritik von Scheurich und die jüngsten Entwicklungen im Verband zu unterhalten: „Ich kann zwischen uns keinen Gesprächsbedarf erkennen und lehne jegliches Gespräch mit Ihnen ab. Bitte unterlassen Sie es zukünftig, mit mir Gesprächsversuche zu starten.“

Elena Lamby, die bei der Deutschen Sportjugend für die Prävention sexualisierter Gewalt zuständig ist, sagt, sie fände es schade, wenn sich Verbandsfunktionäre solchen Gesprächen verschließen würden. Offenbar fürchtet Kyas, sein Verband könne durch die Medien in großen Misskredit gebracht werden. Ein wohl bekanntes Reaktionsmuster. Die Funktionäre sehen sich in solchen Fällen gern als Opfer. Den wirklichen Opfern können sie aber so kaum helfen.

Fehlendes Bewusstsein

Sarah Scheurich dagegen will sich nicht zum Leisetreten verpflichten lassen. Sie sucht die Bühne, sie möchte so viel Öffentlichkeit wie möglich, um für das Problem der sexualisierten Gewalt zu sensibilisieren. Insbesondere für die besondere Situation der Boxerinnen, die beim DBV in den seltensten Fällen Trainerinnen haben und zu ihren Trainern von klein auf in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. „Ich bin weiter gegen sexualisierte Gewalt aktiv. Und ich muss jetzt nicht auf die anderen Mädels hören und mit dem Verband reden. Das kann ich jetzt tausendmal besser als vorher.“ Ihren Boxkolleginnen wirft sie fehlendes politisches Bewusstsein vor.

Kein Name ist so belastet wie dieser. Wer heißt heute noch „Adolf“? Wir haben vier Männer unterschiedlichen Alters gefragt, wie dieser Vorname ihr Leben prägt – in der taz am wochenende vom 20./21. Oktober. Außerdem: Ein Regisseur will mit Theater heilen und probiert das jetzt in Sachsen. Eine Pomologin erklärt, wie sich alte und neue Apfelsorten unterscheiden. Und Neneh Cherry spricht über ihr neues Album. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aktiv ist Scheurich auch nach dem Bekanntwerden eines Missbrauchsfalls in Salzgitter geworden. Sie hat Kontakt mit dem 13-jährigen Mädchen aufgenommen und ihre Hilfe angeboten. Wie das Online-Portal regionalH­eute.de berichtete, hatte der Trainer „einvernehmlichen sexuellen Kontakt“ mit dem Kind eingeräumt. Ein vielsagendes Geständnis. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat im Mai Anklage ­gegen ihn erhoben. Im Schreiben der Staatsanwaltschaft ist nun gar von „schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern in sechs Fällen, sowie in acht Fällen von Misshandlung von Schutzbefohlenen“ die Rede.

Gudrun Heinz, die vom DBV bestellte Vertrauensperson für Opfer sexualisierter Gewalt, sagt, sie habe von dem Fall lediglich gehört. Weil sich bereits die Justiz eingeschaltet habe, sei sie nicht mehr zuständig, würde aber natürlich zu helfen versuchen, wenn sich das Mädchen bei ihr noch melden sollte. In solchen Fällen, bestätigt Elena Lamby von der Deutschen Sportjugend, würden in der Regel die Landessportbünde Kontakt mit den Vereinen und Betroffenen aufnehmen.

Die meist ehrenamtlich arbeitenden Verbandsmitarbeiter haben auch begrenzte Zeit- und Energieressourcen. Gudrun Heinz, im Hauptberuf Sportärztin, spricht hinsichtlich der zu ergreifenden Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt von einer „komplexen Umsetzung“, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde.

Vermutlich könnte man an so einem Fallbeispiel wie in Salzgitter viel für die Prävention lernen. Wie genau hat der Trainer das Abhängigkeitsverhältnis der Sportlerinnen ausgenutzt? An welchen äußeren Zeichen hätte man das bereits viel früher merken können? Warum haben mögliche Mitwisser geschwiegen? Welche Vereinsstrukturen hätten im konkreten Fall das Verbrechen verhindern können?

Den Mangel an fundierter Aufarbeitung kann man nicht nur dem Deutschen Boxsport-Verband anlasten. Elena Lamby räumt ein, dass dies ein allgemeines Problem im organisierten deutschen Sport ist, und attestiert etwas verblümt einen Nachholbedarf: „Im Bereich der Prävention sind wir schon gut vorangekommen. Was die Aufarbeitung von sexuellen Missbrauchsfällen angeht, ist zunächst festzuhalten, dass wir keine Ermittlungsbehörde sind. Was über die juristische Bewertung hinaus nach einem Fall passieren kann, um Betroffene zu unterstützen, ist sicher ein Feld, das noch weiterentwickelt werden kann.“

Dies darf nicht in Verbandshinterzimmern geschehen, sondern sollte möglich offen und transparent gemacht werden. Es wäre auch ein Stück Anerkennung von geschehenem Leid. Dass dies erst vielen weiteren Opfern den Mut gibt, mit ihren Schicksalen an die Öffentlichkeit zu gehen, kann man bei der Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche beobachten. Wie viel Leid im Sport begraben liegt, hat die Studie „Safe Sport“ offengelegt. 37 Prozent der Befragten gaben an, sexualisierte Gewalt im Kontext des Sports erlebt zu haben. Von körperlicher sexualisierter Gewalt waren 11 Prozent betroffen.

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