Sexueller Missbrauch von Jungen: "Wollen sich nicht als Opfer sehen"

Die Psychotherapeutin vom Verein "Wildwasser" über sexuellen Missbrauch, die Gründe für das Schweigen der Opfer, ihr "biologisches Gedächtnis" und die Bedeutung der Verurteilung von Tätern.

Allein im Schnee. Bild: Hartwig HKD – Lizenz: CC-BY-ND

taz: Frau Inthraphuvasak, in dem Fall der Berliner Canisius-Schule haben sich 30 Schüler gemeldet, die von einem Pater missbraucht worden seien. Dieser streitet das ab und sagt, er habe sie "nur" mit beträchtlicher Härte geschlagen. Wann sprechen Sie von sexuellem Missbrauch?

Tatsanie Inthraphuvasak: Bei sexuellem Missbrauch geschieht die sexuelle Handlung eines Erwachsenen vor oder an dem Kind gegen den Willen des Kindes. In der Regel kennt das Kind den Täter gut und erwartet nichts Böses von ihm. Der Täter nutzt seine Machtposition und befriedigt sich zum Beispiel vor dem Kind. Es gibt unterschiedliche Intensitäten von Missbrauch: Wir sprechen von geringem, mittlerem und schwerem sexuellem Missbrauch. Das reicht dann zum Beispiel von dem erzwungenen Anschauen von Pornografie ohne körperlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer über Küsse und leichte Berührungen bis zur oralen oder analen Penetration.

In den Missbrauchsfällen am Berliner Canisius-Kolleg haben die Opfer 30 Jahre lang geschwiegen. Was könnten die Gründe dafür sein?

Die 1966 geborene Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin arbeitet bei "Wildwasser" in Rüsselsheim. Der Verein wendet sich gegen sexuellen Missbrauch.

Opfer reagieren zunächst meist mit einer Verdrängungsstrategie, und das Wichtigste für sie ist, die Normalität aufrechtzuerhalten. Sie führen quasi ein Doppelleben. Die Scham ist zu groß, und viele wollen auf keinen Fall als Opfer gelten. Das gilt für Jungs noch mehr. Opfer zu sein entspricht nicht dem Rollenverständnis, das sie von klein auf vermittelt bekommen. Sie kriegen ja Sätze wie "Indianer kennen keinen Schmerz" mitgegeben.

Wann geben die Opfer ihr Doppelleben auf und sprechen über das, was ihnen angetan wurde?

Erst wenn eine gewisse innere Stabilität erreicht ist, oft im Alter zwischen Ende 30 und Ende 40, zur Lebensmitte. Das ist eine sehr sensible Zeit, in der wir alle überlegen, was wir noch vom Leben wollen. Einschneidende Ereignisse wie die Geburt eines eigenen Kindes oder die Trennung vom Partner können frühere Traumatisierungen hervorholen.

Zum Teil findet Missbrauch in sehr frühem Kindheitsalter statt. Wie erinnern sich die Opfer daran?

Wir haben ein Zellbewusstsein, eine Art Körpergedächtnis. Jede Erfahrung, die wir machen, merkt sich der Körper, auch Dinge, die uns gar nicht bewusst sind. Es kann dann körperliche Symptome geben, die einen ein Leben lang begleiten. Diese einzuordnen und zu verstehen ist, wie ein Puzzle zusammenzusetzen.

Haben die Opfer eine Chance, ihren Fall auch nach vielen Jahren noch vor Gericht zu bringen?

In Deutschland setzt die Verjährungsfrist mit dem 18. Lebensjahr des Opfers ein und ist abhängig von Dauer, Schwere und Zeitpunkt des Missbrauchs. Oft sind Fälle schon verjährt, wenn Erwachsene Missbrauch in ihrer Kindheit ans Licht holen. In den USA hingegen gibt es keine Verjährung von sexuellem Missbrauch.

Wie wichtig ist denn eine Verurteilung des Täters für das Opfer?

Nach unseren Erfahrungen ist eine Anklage nicht notwendig für die Bewältigung des Traumas. Um mit sexuellem Missbrauch leben zu können, bedarf es einer therapeutischen Behandlung, eine Anzeige spielt da keine große Rolle. Oft erleben wir auch, dass die Opfer, wenn der Fall verjährt ist, über einen Anwalt Schmerzensgeld einfordern und dass die Täter häufig zahlen, aus Angst vor Öffentlichkeit. Das ist ja dann auch ein Schuldgeständnis. Die Auswirkungen von wiederholtem schwerem sexuellem Missbrauch sind für die Betroffenen oft lebenslang spürbar. Trotzdem bringen die allermeisten eigene Stärken und Fähigkeiten mit, die ihnen helfen, trotz der traumatischen Erfahrungen ein lebenswertes Leben zu führen.

Wie verbreitet ist sexueller Missbrauch in der Gesellschaft?

Es gibt eine sehr hohe Dunkelziffer, aber man geht davon aus, dass jedes vierte Mädchen und jeder achte Junge mindestens einmal vor seinem 18. Lebensjahr sexuell missbraucht wurde, in dem Spektrum zwischen leichtem und schwerem Missbrauch.

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