Siedlergewalt im Westjordanland: Eskalation im Schatten der Olivenbäume
Die Saison der Olivenernte hat begonnen – und im Westjordanland häufen sich die Angriffe von Siedlern auf palästinensische Bauern.

Mehrere Angriffe durch radikale Siedler versetzen seit vergangener Woche Bäuer*innen und Erntehelfer*innen in den Olivenhainen des Westjordanlands in Angst.
Ein Video ging dazu in den vergangenen Tagen besonders viral in den sozialen Medien: Es wurde vom US-Journalisten Jasper Nathaniel veröffentlicht. Und zeigt einen Mann mit vermummtem Gesicht und zerrissenem T-Shirt, an dem die von gläubigen Juden getragenen Fransen, Zizit genannt, hängen. Er schwingt eine Holzkeule. Der Mann rennt zwischen den Olivenbäumen entlang, wirft einen Stein, überholt den Wagen des Journalisten. Er rast auf eine ältere Frau in schwarzem Kopftuch und traditionellem langen Kleid zu, die gerade unter einem Olivenbaum steht. Der Mann hebt die Keule in die Luft und schlägt auf die Frau ein, die bewusstlos zu Boden fällt. Schreie des Journalisten sind im Hintergrund zu hören.
Dieser Vorfall ereignete sich am Sonntag in Turmus Aya, einem Dorf etwa 16 Kilometer von Ramallah entfernt. Ramallah ist der Hauptsitz der Palästinensischen Autonomiebehörde, etwa 15 Kilometer nördlich von Jerusalem. Augenzeugen sagten, sie hätten gerade Oliven im Gebiet B geerntet, dem Teil des Westjordanlands, der unter israelischer Sicherheitskontrolle und palästinensischer Verwaltung steht. Um die 45 maskierte Siedler, vermutlich aus benachbarten Siedlungen, seien plötzlich angekommen, hätten Menschen geschlagen und Autos beschädigt.
Der taz sagte ein in Turmus Aya lebender Palästinenser, der anonym bleiben möchte: „Der Angriff war sehr gewalttätig.“ Die Siedler hätten unter anderem Fahrzeuge der Bauern in Brand gesteckt. Auch den heftigen Angriff auf die ältere Frau bestätigte er. Sie habe eine Hirnblutung davongetragen. Laut der israelischen Zeitung Times of Israel liegt die Angegriffene weiter im Krankenhaus auf der Intensivstation.
Das israelische Militär ließ eine Anfrage der taz zu dem Vorfall unbeantwortet. Der Journalist Nathaniel schrieb am Montag in einem Post auf Facebook: Soldat*innen hätten ihm später gesagt, bei dem Vorfall habe sich um einen Fehler gehandelt. Und es sei sehr schwierig, die Siedler zu kontrollieren.
Der Angriff ist kein Einzelfall im Westjordanland
Dieser Vorfall ist einer von mehreren, die sich jüngst während der Olivenernte im Westjordanland ereignet haben. Nahezu täglich melden arabische Medien Angriffe durch radikale Siedler, meistens auf Erntearbeiter*innen.
Ein weiterer Fall: In der vergangenen Woche blockierten radikale Israelis laut Videos und Medienberichten die Zufahrtswege des christlichen Dorfes Taybeh nordöstlich von Ramallah und hinderten so die Einwohner*innen an der Ein- oder Ausreise. Parallel dazu sollen Menschen, die gerade Oliven außerhalb des Dorfes ernten, attackiert worden sein. Des Weiteren haben am Sonntag radikale Siedler offenbar Palästinenser*innen im benachbarten al-Mughayyr angegriffen.
Vor wenigen Tagen wurden außerdem 32 ausländische Aktivist*innen, die Palästinenser*innen bei der Olivenernte nahe Burin im nördlichen Westjordanland begleiten und so vor Angriffen schützen wollten, verhaftet und abgeschoben. Das Militär sagte laut Medienberichten dazu, sie hätten eine geschlossene Militärzone unerlaubt betreten.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
Angriffe auf Erntearbeiter*innen sind nichts Neues, die israelische Menschenrechtsorganisation Yesh Din dokumentierte im vergangenen Jahr 113 Zwischenfälle. In mindestens 47 Fällen seien israelische Soldat*innen laut der NGO anwesend gewesen, als Siedler versucht haben, die Erntearbeiter*innen zu behindern. Und sie hätten den Israelis geholfen. In diesem Jahr hat das Büro für die Koordination humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen seit dem 9. Oktober bereits 36 Angriffe durch Siedler auf Erntehelfer*innen in 27 palästinensischen Dörfern gezählt.
Straflosigkeit bei Siedlergewalt
Das israelische Militär antwortete bereits in der Vergangenheit auf solche Vorwürfe: Seine Soldat*innen arbeiteten für den Schutz aller Einwohner*innen in der Region und seien bei Gewalttaten durch Israelis daran gehalten, diese zu stoppen und die Verdächtigen gegebenenfalls festzunehmen.
Mehrere NGOs beklagen allerdings eine gewisse Straflosigkeit, wenn es um Verbrechen von israelischen Siedlern geht. Laut Yesh Din endeten fast 94 Prozent aller Untersuchungen wegen ideologischen angezeigten Straftaten an Palästinenser*innen zwischen 2005 und 2024 ohne Anklage.
Die Saison der Olivenernte im Westjordanland beginnt im Oktober und reicht bis Anfang Dezember. Sie hat für Palästinenser*innen eine besondere Bedeutung: sowohl im Sinne der nationalen Identität als auch als Wirtschaftsfaktor. Für Familien auf dem Land ist sie oft eine solide Einkommensquelle. Umso mehr jetzt, wo die ökonomische Lage in den palästinensischen Gebieten nach dem Krieg in Gaza stark angeschlagen und die Arbeitslosigkeit auch im Westjordanland deutlich gestiegen ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert