„Skulptur Projekte Münster“ 2017: Über Wasser wandeln im Münsterland

Erfrischend, sprudelnd, ästhetisch überzeugend: Die „Skulptur Projekte Münster“ retten das Kunstjahr 2017 mit einer aufgebrochenen Eissporthalle.

Eine Frau tritt auf Steg im Wasser in Münster.

Knapp unter der Wasseroberfläche verlegte Ayşe Erkmen einen Steg zum Spazieren durchs Wasser Foto: dpa

Internationale zeitgenössische Kunst und deutsche Provinz sind die absolute Dekadenzerfahrung. In Münster laufen und radeln die Besucher*innen der Skulptur Projekte durch die Stadt, um alle halbe Stunde mal auf ein Kunstwerk zu stoßen, falls sie sich nicht verlaufen haben und es länger dauert. Haben sie’s gefunden, dann stehen sie, wenn’s drauf ankommt, noch eine oder mehr Stunden an, um überhaupt zu ihm vorzudringen.

Allerdings muss man sagen, dass es sich bei Pierre Huyghe lohnt, zu warten. Genau fünf Jahre nachdem sein abgemagerter weißer Windhund mit der fluoreszierend pinkfarbenen Pfote zum heimlichen Star der documenta 13 in Kassel wurde, präsentiert er in Münster eine womöglich noch fantastischere Skulptur, mit dem Einfall, die städtische Eissporthalle dem Erdboden gleichzumachen.

Huyghe ließ die aufgegebene Schlittschuhbahn aufschneiden und Teile des Bodens abtragen, sodass die Erde darunter freilag und weiter, bis in drei Meter Tiefe, aufgegraben und verschoben werden konnte. Andere Teile des Bodens wurden an Ort und Stelle belassen, um wie Inseln über das offene Erdreich zu driften.

Bakterien im Erdreich

Die Skulptur ist komplexer, als es der pure Anschein glauben macht. Huyghe schafft mit der Zerstörung eine neue Biosphäre, in der alles lebt und Unsichtbares eine nicht weniger kardinale Rolle spielt als Sichtbares. Die Decke der Eissporthalle weist quadratische Einbauten auf, die sich als sich pyramidenförmig nach unten öffnende Fenster erweisen. Durch sie dringen neben frischer Luft auch Pollen, Samen und Regenwasser in die Halle. Neben den Bakterien im Erdreich oder den Algen, die sich in den Schlammpfützen bilden, bevölkern Ameisen, aber auch Pfauen das Gelände, in dem sich Erdhügel als Bienenstöcke entpuppen.

Ein Aquarium fällt auf, dessen verspiegelte Scheiben meist wenig von seinem Innenleben preisgeben, etwa den Weber­kegeln, einer giftigen Wasserschnecke mit einem ausgesprochen hübsch gemusterten Schneckenhaus, das einem zellulären Automaten ähnelt. Hin und wieder allerdings werden sie bei richtigem Licht und richtiger Temperatur transparent. Wer mit Kunst die Welt verändern will, muss zuerst die Kunst verändern: ins Biologisch-Prozesshafte, in ein hybrides System künstlerischer Autopoesie, ist der Vorschlag Pierre Huyghes.

Dass Kunst ihre Welt verändern könnte, fürchteten einst die Bürger der sehr katholischen, sehr konservativen Stadt Münster, als der Direktor des Westfälischen Landesmuseums, Klaus Bußmann mit dem jungen, aus New York kommenden freien Ausstellungsmacher Kasper ­König 1977 die erste große Ausstellung zur Skulptur ver­anstaltete. Die Behörden suchten zu blockieren, empörte Müns­teraner beschmierten die öffentliche Kunst schon mal mit Parolen, gerne gegen den Kapitalismus und den Stadtrat.

Arbeiten mit Blick auf das örtliche Publikum

Zehn Jahre später waren die Skulptur Projekte schon ein Riesenzirkus und weitere zehn Jahre später stellten Stadt und Westfälischer Landschaftsverband diesen Rhythmus für die Zukunft sicher. Da hatten die Münsteraner den Eingriff in ihre Befindlichkeit qua Kunst längst schätzen gelernt und machten mit. Denn anders als in Kassel werden in Münster nicht Werke in Auftrag gegeben, sondern Künstler eingeladen. Sie entwickeln ihre Arbeiten mit Blick auf das örtliche Publikum in einem Netzwerk aus Museum, Kunstverein und Thea­ter, städtischen Ämtern, katholischer Kirche und Universität.

Am dichtesten verwirklicht ist dieses Konzept wohl in der Elephant Lounge, dem Juwel einer 70er-Jahre-Disco in der Altstadt, in der Benjamin de Burca und Bárbara Wagner das Münsteraner Schlagerpaar Stefani ­Teumner und Markus Sparfeldt entdeckt. Beide treten dort als Interpreten von Helene Fischer und Udo Jürgens auf.

Bis 1. Oktober, Münster, Katalog 18 Euro. www.skulptur-projekte.de

Das brasilianische Duo de Burca und Wagner, das in seinem fotografischen und filmischen Schaffen, ausgehend von popkulturellen Phänomenen, die po­litische Ökonomie verschiedener Märkte wie hier des Schlagermarkts untersucht, übersetzte ihre Auftritte in vielschichtige Videoinsze­nierungen. Geschickt werden darin der Alltag der Stadt und ihrer Bewohner wie die Kunsthinterlassen­schaften der letzten Skulptur Projekte mit der Welt des deutschen Schlagers verwoben, der so, wie er sich seinen Reim auf die Liebe und Paarbeziehung macht, als soziale Plastik kenntlich wird.

Kunden ab 65 erhalten einen Seniorenrabatt

Auch der amerikanische Künstler Michael Smith operiert in seiner Performancepraxis mit popkulturellen Modellen. Jenseits der nach dem Krieg wiederaufgebauten Altstadtkulisse hat er hinter dem Hauptbahnhof am Hansaring sein Tattoostudio eingerichtet. Kunden ab 65 erhalten einen Seniorenrabatt – ein Angebot, das sie nicht ausschlagen können, liefern doch die aktuellen und ehemaligen Teilnehmer der Skulptur Projekte die Tattoomotive.

Nicht weniger exquisit: über Wasser zu wandeln. Das macht Ayşe Erkmen − diesmal ganz in der Nähe – mit ihrer ortsbezogenen Intervention am alten Hafen möglich. Während der Südkai noch industriell genutzt wird, hat sich der Nordkai in eine schicke Flaniermeile mit Restaurants und Bars verwandelt. Knapp unter der Wasseroberfläche verlegte Ayşe Erkmen einen Steg, der beide Soziotope verbindet. Man kommt also mit denen vom anderen Ufer in Kontakt, was erfrischend ist − und zugegebenermaßen vor allem am kühlen Wasser liegt.

Mit diesem Medium arbeitet auch Nicole Eisenman. Ganz klassisch setzt die New Yorker Künstlerin eine Figurengruppe in den Außenraum der städtischen Promenade. Die Gruppe selbst ist weniger klassisch, denn ihre fünf stämmigen Gesellen, zwei aus Bronze und drei aus weißem Gips, haben ganz schön Wasser in den Beinen. Das sprudelt dann lustig in das Becken, um das die cartoonartigen, keinem Geschlecht zuzuordnenden Figuren herumgruppiert sind.

Verdeckter Blick auf die Henry-Moore-Skulptur

Die leise, treffsichere Ironie, die die Brunnenanlage charakterisiert, gibt es auch bei „Benz Bonin Burr“ vor dem Landesmuseum und Kunstverein. Dort ließ Cosima von Bonin einen Mercedes-Benz-Tieflader vorfahren. Er verdeckt den Blick auf die monumentale Henry-Moore-Skulptur, die die Neue Nationalgalerie in Berlin für die Zeit ihrer Renovierung dort zwischengeparkt hat.

„Archer“ ist eindeutig Kunst – und kann doch offenbar weg. Denn auf dem Laster befindet sich die passende schwarze Transportkiste mit dem Aufdruck „Fragile“ – sie stammt von dem amerikanischen Konzeptkünstler Tom Burr, der im Kunstverein gerade seine wunderbare Ausstellung „Surplus of Myself“ eröffnet hat.

Derart deutliche Setzungen im Außenraum sind freilich in der Minderzahl. Sonst treten die Künstler hier eher zurückhaltend auf. Andreas Bunte inszeniert Kurzfilme in laborähnlichen Situationen, in Münster plakatiert er mit einem QR-Code versehene Aufnahmen der verschiedenen Filmsets an drei Orten nahe dem Landesmuseum. Laden sich die Besucher*innen die Laboratory-Life-App auf ihr Smartphone, dann können sie die zugehörigen Filme sehen.

Abwanderung und Leerstand

Die Leuchtschildinstallation „Angst“ (1989) von Ludger Gerdes hängt normalerweise am Rathaus von Marl. Über „The Hot Wire“, wie der Titel der Kooperation lautet, haben sich die Skulptur Projekte zum ersten Mal eine Partnerstadt gesucht. Das 60 Kilometer von Münster entfernte, einstmals reiche Marl ist der modernistische Gegenentwurf zu Münster. Schon immer eine kunstaffine, exemplarische Stadt des architektonischen Brutalismus, leidet sie heute unter Abwanderung und Leerstand.

Auffällig aber bleibt: Die Künstler*innen sind gerne drinnen im Landesmuseum, wie ­Michael Dean, Nora Schulz oder – natürlich – Gregor Schneider, der hier im obersten Stockwerk sein „Haus Ur“ als mysteriöse Wohnung für N. Schmidt weiterbaut.

Hito Steyerl hat sich in der Westdeutsche Landesbausparkasse (LBS) eingenistet. Dort sucht sie in ihrer rasanten Videoinstallation „Hell Yeah We Fuck Die“ – nach den fünf am häufigsten gebrauchten Worten der englischsprachigen Musikcharts − einerseits humanoide Roboter aus dem Gleichgewicht zu bringen. Andererseits projiziert sie Aufnahmen aus der kurdischen Stadt Diyarbakır, deren durch das Weltkulturerbe geschützte Altstadt im Bürgerkrieg 2016 zerstört wurde. 1205 verfasste dort der Forscher al-Dschazarī ein Werk über mechanische Apparaturen, das als „Automata“ bekannt wurde. Steyerl fragt dazu den Apple-Algorithmus Siri, welche Rolle Computertechnologien im Krieg spielen.

Die Skulptur Projekte, von Kasper König nun schon erstaunliche 40 Jahre verantwortet − dieses Mal gemeinsam mit den Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner –, haben die ästhetischen und ethischen, also sozialen und politischen Anforderungen an eine Großausstellung zeitgenössischer Kunst weitaus schlüssiger erfüllt als die darin so großspurig versagende documenta in Kassel.

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