Sommerferien: Wir lernten, über spitze Steine zu laufen
Ferienlager klingt nach Hagebuttentee und Linoleumboden. Unsere Autorin hat mehr Erinnerungen – und fordert Urlaub für Kinder aus allen Schichten.

Kurz vor unserem Abi beschwerte sich ein Klassenkamerad von mir über die Person, die als DJ beim Abschlussball auflegen sollte. Er bot an, selbst für einen besseren Ersatz zu zahlen. „Geld spielt keine Rolex“, verkündete er. Der Satz beschreibt einen Teil meines Jahrgangs gut. Hamburgs Speckgürtel, Markenkleidung. Als wir 18 wurden, das ist jetzt sieben Jahre her, tauchten regelmäßig neue Minis auf dem Schulparkplatz auf.
Für meine Familie spielte Geld sehr wohl eine Rolle. Arm waren wir nicht, darauf achten mussten wir schon. Stand für meinen Bruder und mich gleichzeitig eine Klassenfahrt an, konnten die neuen Deichmann-Schuhe erst im nächsten Monat gekauft werden. Meine Eltern sparten viel, damit wir im Sommer ein oder zwei Wochen lang verreisen konnten. Meist gingen wir Zelten.
Jeder Fünfte konnte sich in Deutschland 2024 keinen einwöchigen Urlaub leisten. Das ergab eine Studie des Statistischen Bundesamts. Als Urlaub zählten auch Reisen zu Verwandten oder Freund:innen.
Es sind kirchliche Träger oder Vereine wie die sozialistischen Falken, die jedes Jahr Tausenden Kindern und Jugendlichen günstige Ferienfahrten ermöglichen. Was für manche nach Linoleumboden und Hagebuttentee klingt, müsste eigentlich gesellschaftlich viel mehr anerkannt und gefeiert werden. Mit meinen Eltern, meinem Bruder und befreundeten Familien verbrachte ich jedes Jahr im Sommer ein verlängertes Wochenende in einem Haus der Falken an der Ostsee. Weil sich die vergleichsweise niedrigen Kosten unter vielen aufteilten, konnten alle mitkommen.
Du liest einen Text aus unserem Zukunfts-Ressort. Wenn Du Lust auf mehr positive Perspektiven hast, abonniere TEAM ZUKUNFT, den konstruktiven Newsletter zu Klima, Wissen, Utopien. Jeden Donnerstag bekommst du von uns eine Mail mit starken Gedanken für dich und den Planeten.
Das Gefühl, an den geliebten Ort zurückzukehren, stellte sich schon an der Schranke ein, die den langen Kiesweg zum Haus absperrte. Oft hielten mein Bruder und ich es nicht aus, nach dem Öffnen zurück ins stickige Auto zu steigen. Lieber sprinteten wir den ganzen Weg johlend zum Haus.
Was ist es wert, Ferien machen zu können? Und was bedeutet es für Kinder, wenn es unmöglich ist? Um diesen Fragen nachzuspüren, bin ich an den Arsch der Welt gefahren. So nennt eins der teilnehmenden Kinder den mecklenburgischen Ort Schlowe, wo in diesem Sommer eine Ferienfahrt der Falken stattfindet.
Wir balancieren auf Holzbrettern durch den hartnäckigen Schlamm, dorthin, wo vereinzelte Zelte stehen. Es hat tagelang geregnet, deswegen mussten die Acht- bis Sechzehnjährigen ihre Zelte mehrmals ab- und an weniger matschigen Orten wieder aufbauen.
Kurz erzählen die Kinder vom Regen, bevor sie sich wieder dem wirklich Wichtigen widmen: Wer das Schweinchen in der Mitte sein darf. Ein Junge, der schon den ganzen Tag mit dem Basketball unterwegs ist, will auch noch mitspielen. Für seine Schwester und ihn ist das Zeltlager in diesem Sommer der einzige Urlaub, erzählt er. Alle paar Jahre besuchen sie die Heimat ihres Vaters, ansonsten gehe es ab und zu zum Erlebnisbad Tropical Islands.
In Schlowe dabei ist auch Michaela Lange, Mimi genannt. Sie ist Bildungsreferentin der Falken. Bei den Zeltlagern des Vereins nehme etwa ein Fünftel der Familien die Ratenzahlungen oder Hilfe bei Förderanträgen in Anspruch, sagt sie. Eltern, die finanziell besser aufgestellt sind, werden um einen höheren Solidaritätsbeitrag gebeten.

In dem Falken-Haus an der Ostsee lernte ich achtzehn Sommer lang, wie man möglichst schmerzfrei über die spitzen Steine ins Wasser watet und danach als erste einen Platz in einer der beiden warmen Duschen des Hauses ergattert. Wenn wir Glück hatten, führten unsere Eltern Puppentheater auf, schnitten Löcher in einen Bettbezug und ließen die Figuren dort hervorblitzen. Abends spielten wir am liebsten im angrenzenden Waldstück Fangen im Dunkeln, während wir Knicklichter trugen. Wenn es mir zu gruselig wurde, lief ich absichtlich in die Arme der Fänger:innen.
Ich denke daran, wenn ich den Kindern beim Falken-Zeltlager beim Fangen und Ballspielen zuschaue. Sie haben ganz andere Probleme als ich selbst zehn Jahre früher. Viele beginnen sofort von Corona zu sprechen. Eine Fünfzehnjährige erzählt etwa, seit der Pandemie ständig nur am Handy zu hängen. „Meine Eltern haben mich deshalb gezwungen, mir ein Ferienprogramm auszusuchen, weil ich sonst nur herumgammel“, sagt sie.
Begeistert war sie nicht, dachte vor allem an schlechtes Essen und Langeweile. Deshalb habe sie extra viel Proviant eingepackt. Ihre neuen Freund:innen lachen, als sie davon erzählt. Heute gibt es allerdings selbst gemachte Sommerrollen statt mitgebrachtem Essen. Danach bricht die hibbelig wirkende Truppe Teenager mit einem Bollerwagen Richtung See auf. Heute schlafen sie unter freiem Himmel.
Ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht bei einer Jugendreise sein zu wollen. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte mein Vater einen schweren Arbeitsunfall im Hamburger Hafen. In der Hoffnung, uns damit abzulenken, wurden mein Bruder und ich kurzfristig in ein Ferienheim mit kirchlichem Träger geschickt. Ich kam weinend an und wechselte dreimal das Schlafzimmer. Der tägliche Schwimmbadausflug half trotzdem, Abstand zu gewinnen. Sonntags sollten wir beten, worin wir als Nichtchristen keine Erfahrung hatten. War es vielleicht doch ein Wunder, dass der vom Baustellenkran fallende Holzpfahl bloß Papas Bein und nicht seinen Kopf getroffen hatte? Mit der Religion und mir war es zwar schnell wieder vorbei. Dass wir dort kurzfristig aufgenommen wurden, dafür bin ich trotzdem dankbar.
Wie anders man durchs Leben geht, wenn man nicht ständig über Preise nachdenkt, wurde mir erst mit eigenem Erspartem bewusst. Inzwischen bin ich sogar an Orte außerhalb Europas gereist. Auf meiner letzten Reise begegnete ich einigen Backpacker:innen, die müde zu sein schienen. Sie waren der Wasserfälle oder Affen überdrüssig, schließlich hatten sie in vielen anderen Ländern schon Spannendere gesehen. Es erinnert mich an den Rolex-Mitschüler und daran, wie ich nicht werden will.
Ich weiß, dass es viele Kinder deutlich schwerer hatten als ich, sich zum Beispiel über fehlendes Essen Gedanken machen mussten. Dagegen mag Urlaub wie ein Luxusproblem klingen. Doch gerade für diejenigen, in deren Kindheit Erwachsenensorgen einen viel zu großen Platz einnehmen, können solche Räume einen großen Unterschied machen. Unbefangen Kind sein. Selbstwertgefühl entwickeln. Etwas zu erzählen haben. Bei uns war es damals in der Klasse sehr üblich, dass die Lehrer:innen der Reihe nach abfragten, was wir in den Ferien erlebt hatten. Es war wohl nett gemeint, aber ich war heilfroh, eine Antwort darauf geben zu können. Manche im Klassenzimmer konnten es nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Gespräch mit einem Polizisten
„Manchmal wird bewusst unsauber gearbeitet“
Prozess gegen Flüchtlingshelfer
Hilfe als Straftat?
Tübinger OB diskutiert mit AfD-Politiker
Die Boris-Palmer-Show
Bully Herbigs aktuelle Winnetou-Parodie
Relativ unlustig
Höhere Bemessungsgrenzen
Gutverdienende sollen mehr Sozialabgaben zahlen
Historikerin über rechte Körperpolitik
Die Fantasie vom schönen Volk