Sozialbetrug in Millionenhöhe: Freelancer am Küken-Fließband

Ein Brüderpaar aus dem Solling soll asiatische Fachkräfte für die Geschlechtsbestimmung von Küken unerlaubterweise als Selbstständige beschäftigt haben

Wenns doch bloß so einfach wäre: Für die Geschlechtsbestimmung bei Küken braucht es jede Menge Erfahrung. Bild: dpa

GÖTTINGEN taz| Seit mehr als einem Jahr müssen sich zwei 56 und 51 Jahre alte Brüder aus dem Solling-Städtchen Uslar vor der Wirtschaftskammer des Göttinger Landgerichts wegen Betruges und Untreue verantworten. Sie sollen jahrelang insgesamt etwa 300 sogenannnte „Chick Sexer“ aus China und Korea beschäftigt und dabei den Sozialkassen Abgaben in Höhe von rund fünf Millionen Euro vorenthalten haben.

Spezialisten aus Asien

Hühnerküken werden unmittelbar nach dem Schlüpfen nach ihrem Geschlecht sortiert. Je nachdem, ob ein Betrieb Masthähnchen oder Legehennen hält, werden die Tiere des nicht gewünschten Geschlechts sofort getötet. Für diesen Job heuern europäische Firmen meist gut ausgebildete Spezialisten aus Asien an.

Die beiden Angeklagten hatten im Frühjahr 1999 gemeinsam mit ihrer Mutter eine Firma gegründet, die Chick Sexer aus Asien anwirbt und an Geflügelzuchtbetriebe in Deutschland und anderen europäischen Ländern vermittelt. Das Unternehmen behandelte die Spezialisten als Selbstständige und führte keine Sozialabgaben für sie ab.

Dies blieb über Jahre hinweg unbeanstandet. Erst nach einer Betriebsprüfung 2004 wegen des Verdachts illegaler Beschäftigung stellten die Finanz- und Sozialbehörden fest, dass für die Chick Sexer zwar Lohnsteuer gezahlt worden war, Beiträge für die Kranken- und Rentenversicherung aber nicht.

Weil die Chinesen und Koreaner nach Ansicht des Finanzamtes aber nicht als Selbstständige, sondern als Arbeitnehmer einzustufen waren, müssten für sie auch Sozialbeiträge gezahlt werden. Das angeklagte Brüderpaar und ihre Verteidiger sehen das anders: Die Kükensortierer seien keine abhängig Beschäftigten, deshalb habe auch keine Abgabepflicht bestanden.

Schon 40 Prozesstage

Der Wahrheit konnte das Gericht in bisher rund 40 Verhandlungstagen nicht herausfinden. Deutlich wurde nach Angaben von Prozessbeteiligten bislang aber, dass die Staatsanwaltschaft Mühe hat, ihre Sicht der Dinge durchzubringen.

Dem Gesetz nach ist Arbeitnehmer, wer aufgrund eines Vertrages im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit verpflichtet ist. Im vorliegenden Fall stellt sich die Sache aber gar nicht so einfach dar: Die Tätigkeit der Chick Sexer ist zwar nicht selbstbestimmt, sie wird aber auch nicht vom vermeintlichen Arbeitgeber bestimmt – sondern davon, wann in welcher Brüterei wie viele Küken schlüpfen.

Nur am Rande kam im laufenden Prozess zur Sprache, wie die Geschlechtsfeststellung der Küken eigentlich genau erfolgt. Die Regel ist das sogenannte Kloakensexen. Dabei wird leichter Druck auf die Kloake – also den gemeinsamen Körperausgang für Verdauungs- und Geschlechtsorgane – ausgeübt. Die Spezialisten können durch Tasten den größeren und knorpeligeren Penis der männlichen Küken von der Klitoris unterscheiden. Erfahrene Sexer schaffen es, in einer Stunde das Geschlecht von etwa 2.000 Küken zu bestimmen.

Die Millionen aussortierten Küken werden von den Betrieben nach Angaben der Tierschutzorganisation Peta übrigens vergast oder geschreddert und landen dann auf dem Müll.

Der Betrugsprozess in Göttingen endet frühestens im Herbst.

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