Sozialpädagogin über Kindesmissbrauch: „Täter sind unauffällig“

Kinder sprechen mit etwa sieben Menschen, bevor ein Missbrauch aufgedeckt wird. Die Erwachsenen verstehen ihre Worte nicht – oder hören nicht zu.

Missbrauch: Puppe im Dreck

Zerstört so viel: Der Vertrauensverlust bei sexuellem Missbrauch. Foto: dpa

taz: Frau Lorenzen, wie machen Kinder darauf aufmerksam, wenn sie sexuell missbraucht werden?

Ann-Kathrin Lorenzen: Die Bandbreite der Anzeichen ist sehr groß und unspezifisch. Meistens ist eine Verhaltensveränderung zu bemerken. Ein Kind ist übermäßig ängstlich, aggressiv oder es zieht sich zurück – vielleicht zeigt sich dieses Verhalten, wenn der Besuch von jemandem angekündigt ist. Typische Anzeichen können sein, dass sich Kinder übertrieben doll waschen. Manche waschen sich auch gar nicht mehr, in der Hoffnung, der Täter oder die Täterin ekelt sich.

Sprechen die Kinder über das, was sie erlebt haben?

Sie können es oft nicht benennen, dass sie missbraucht werden. Viele Kinder schweigen auch aus Schamgefühl, weil sie bedroht oder erpresst werden, großteils auch, weil der Täter oder die Täterin ihnen eine Mitschuld gibt. Die greifen gesellschaftliche Mythen auf: „Selbst Schuld, wenn du so einen kurzen Rock getragen hast, dann wolltest du das wohl so!“ Missbrauch passiert nicht einfach so. Die Täter*innen gehen immer geplant und gezielt vor. Sie suchen sich häufig Kinder, denen etwas fehlt, denen sie Geschenke machen und die sie gut manipulieren können.

Und wenn die Kinder ihren Mut doch zusammennehmen, bekommen sie Hilfe?

Sie verwenden meist andere Worte, um den Erwachsenen nicht direkt zu konfrontieren und sie testen immer wieder an, ob man dem Erwachsenen vertrauen kann. Kinder teilen sich etwa sieben Erwachsenen mit, bevor der Missbrauch aufgedeckt wird. Vor fast 30 Jahren, als wir mit der Präventionsarbeit begonnen haben, mussten sich Kinder noch etwa zehn Menschen anvertrauen. Heute werden Kinderrechte ernster genommen.

Ann-Kathrin Lorenzen, 28, arbeitet als Sozialpädagogin im Präventionsbüro Petze in Kiel zu Themen wie sexueller Selbstbestimmung und Schutz vor sexualisierter Gewalt.

Wie viele Kinder sind dennoch betroffen?

Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass eine Million Mädchen und Jungen in Deutschland sexuellen Missbrauch erleben. Angezeigt werden deutlich weniger Fälle. In jeder Klasse sitzen demnach ein bis zwei Kinder, die Missbrauch erlebt haben oder auch noch erleben. Bei Menschen mit Behinderung sind die Zahlen um etwa ein Drittel höher.

Wie sollen die Erwachsenen reagieren?

Sobald man ein komisches Gefühl hat, ist meist etwas dran. Es muss nicht immer Missbrauch sein. Aber es muss dem nachgegangen werden. Wichtig ist es, möglichst ruhig zu reagieren. Bei wertenden Äußerungen kann ein Kind eventuell auch den Erwachsenen schützen wollen. Je schneller den Kindern geglaubt wird, um so besser wirkt es sich auf die Verarbeitung aus. Das Kind sollte jedoch keinesfalls aufgefordert werden, etwas zu sagen, wenn es nicht möchte. Außerdem ist es wichtig, nicht allein zu bleiben und sich selbst bei einer Fachberatungsstelle oder beim Hilfetelefon sexueller Missbrauch beraten zu lassen.

Fehlen Kindern die Worte?

Es kommt darauf an, welches Wissen die Kinder über ihren Körper, ihre Grenzen, Gefühle und Sexualität haben. Deswegen ist eine positive, gendersensible und altersgerechte Sexualpädagogik wichtig für die Präventionsarbeit. Denn dadurch wird die Sprach- und Handlungsfähigkeit von Mädchen und Jungen gestärkt.

Wer sind die Täter*innen?

Meist ist der Täter oder die Täterin eine sehr unauffällige und soziale Person, die ein ganz normales Familienleben und eine „Erwachsenensexualität“ hat. Etwa 80 Prozent der Tatpersonen kommen aus dem sozialen Nahbereich der Kinder. Sie stammen aus allen sozialen Schichten, sind jeglichen Alters. Der veraltete Spruch „Geh nicht mit Fremden mit“ passt hier also keineswegs und ist sogar kontraproduktiv. Aber es ist für Eltern schwer zu ertragen, dass Täter*innen ganz nah sind. Die Kinder vertrauen diesen Menschen. Dieser Vertrauensmissbrauch sorgt dafür, dass letztlich so viel kaputtgeht, sozial, kognitiv und emotional.

Wie bahnt sich eine Tat an?

Bei der Annäherungsstrategie testen Täter*innen die Grenzen. Es wird geguckt, wie weit bei dem Kind gegangen werden kann. Die Täter*innen gehen dann immer weiter über die Grenzen des Kindes. Dabei nutzen sie das Machtverhältnis aus. Das befriedigt die Bedürfnisse der Täter*innen. Das Sexuelle ist ausschließlich ein Mittel. Eine andere Strategie ist, das Kind abhängig zu machen, etwa wenn es emotionale Zuwendung braucht. Anschließend wird das Kind eingeschüchtert und zur Geheimhaltung gezwungen. Deswegen geht der Missbrauch oft auch über lange Zeit und Täter*innen haben häufig mehrere Opfer.

Verstehen Kinder, was ihnen widerfährt?

Nein, das tun sie meist nicht. Kinder glauben an das Gute und gehen davon aus, dass das schon richtig sein wird, was der Onkel oder die Tante da macht. Deswegen ist es so wichtig, dass Kindern nicht suggeriert wird, bei Erwachsenen immer lieb sein zu müssen. Kinder dürfen ihre Grenzen selbst bestimmen.

Wie steht es um Präventionsprojekte und Beratungsstellen in Schleswig-Holstein?

Prävention von sexuellem Missbrauch ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sehr viel mehr Menschen müssen Bescheid wissen, sensibilisiert und informiert sein. Mehr Fachberatungsstellen vor Ort wären wichtig – am besten flächendeckend. Dafür muss die Landesregierung mehr Geld bereit stellen. Zudem müssten an Schulen Schutzkonzepte eingeführt werden, wie es in Kindertagesstätten bereits Pflicht ist und Präventionsbeauftragte sollten institutionalisiert werden.

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