Sozialverbände laufen Sturm: Die Pflege wird privatisiert

Die Arbeitnehmer sollen die steigenden Kosten der Pflege zahlen. Gegen die einseitige Belastung der Bürger laufen Sozialverbände und die Opposition Sturm.

Eine Bewohnerin in einem Alten- und Pflegeheim in Düsseldorf. Bild: dpa

Noch vor Abschluss der Koalitionsverhandlungen empören die Pflegepläne von Schwarz-Gelb Verbände und Parteien. Union und FDP wälzten mit ihren Plänen steigende Kosten in der Pflege einseitig auf Arbeitnehmer und Rentner ab, kritisierte Ulrike Mascher, die Präsidentin des Sozialverbands VdK. "Der Entsolidarisierung der sozialen Sicherungssysteme wird Vorschub geleistet." Die pflegepolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Elisabeth Scharfenberg, sagte: "Ein solches Modell ist der Einstieg aus dem Ausstieg aus der Solidarität."

Tatsächlich plant die Koalition eine einschneidende Reform der Pflegeversicherung. Das Vorhaben kündigt sie in wenigen Sätzen im Entwurf des Koalitionsvertrages an, der der taz vorliegt. In Kapitel III heißt es, die derzeitige Umlagefinanzierung der Pflegeversicherung könne den absehbaren Pflegebedarf der Bürger nicht auffangen. "Daher brauchen wir neben dem bestehenden Umlageverfahren eine Ergänzung durch Kapitaldeckung, die verpflichtend, individualisiert und generationengerecht ausgestaltet sein muss."

Im Klartext: Wer Einkommen oder Rente bezieht, soll also künftig neben seinem oder ihrem Beitrag zur Pflegeversicherung eine Pflichtprämie zahlen. Tatsächlich wäre dies eine Abkehr vom solidarischen Prinzip der Pflegeversicherung. Eingeführt im Jahr 1995 vom damaligen CDU-Sozialminister Norbert Blüm teilen sich Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge im Moment grob. Wobei damals schon der arbeitsfreie Buß- und Bettag gestrichen wurde, um die Belastung der Firmen durch Pflegebeiträge durch Mehrarbeit der Beschäftigten auszugleichen.

Die Koalitionsreform würde nun die Pflegeversicherung weiter zulasten der ArbeitnehmerInnen umbauen. Und dies ist offenbar Konsens zwischen den Koalitionspartnern. In dem Vertrag, den die Koalitionäre bis Samstag endgültig beschließen wollen, ist der Passus nicht als "noch zu ändern" markiert.

Wie genau aber die wolkig gehaltene Ankündigung im Detail umgesetzt wird, ist unklar: Heinz Lanfermann, der pflegepolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und Mitverhandler bei den Koalitionsverhandlungen, geht aus von "einem geringen monatlichen Betrag, der einen kleinen Kapitalstock aufbaut". Dieser solle, sagte Lanfermann, "eigentumsrechtlich geschützt werden, damit Haushaltspolitiker darauf nicht zugreifen können".

Das Prinzip würde so ähnlich funktionieren wie die Riester-Rente - nur können hier die BürgerInnen seit 2002 freiwillig entscheiden, ob sie privat neben der gesetzlichen Rente fürs Alter ansparen. Bei der Pflege plant die Koalition eine Zwangsabgabe. Ob Versicherungskonzerne oder eine staatliche Stelle dieses Geld verwalten, sei zwischen Union und FDP noch nicht geklärt: "Wir haben uns da nicht auf ein Modell festgelegt", sagte FDP-Experte Lanfermann weiter.

Neu ist die Idee einer Prämie nicht. Die ehemalige CSU-Sozialministerin Bayerns, Christa Stewens, schlug 2005 vor, die Beiträge zur gesetzlichen Pflegeversicherung einzufrieren. Gleichzeitig wollte sie alle unter 60-Jährigen zu einer monatlichen Pauschale verpflichten. Sie sollte anfangs 4 Euro betragen und dann jährlich um knapp 50 Cent steigen - einen Betrag, den der Rentenexperte Bernd Raffelhüschen als viel zu niedrig kritisierte.

Er hielt damals einen Einstieg von 8,50 Euro monatlich für realistisch, um das Pflegedefizit zu decken - bis zum Jahr 2030 gar 50 Euro. Inzwischen dürfte eine mögliche Prämie wegen des gestiegenen Finanzbedarfs von der Koalition noch höher taxiert werden, auch wenn sich im Moment noch kein Politiker von Union oder FDP festlegen mag.

Falls Schwarz-Gelb sich an dem Stewens-Modell orientiert, wäre dies der schrittweise Ausstieg aus der gesetzlichen Versicherung - während die private Säule immer wichtiger würde. "Die Koalitionspläne sind zutiefst ungerecht", sagte die Grünen-Fachpolitikerin Scharfenberg. "Bei einer Prämie oder Kopfpauschale werden alle gleich belastet: Die Krankenschwester oder der Altenpfleger zahlt das Gleiche wie ein Manager."

Nach Ansicht von VdK-Präsidentin Mascher wären Niedrigverdiener sogar doppelt benachteiligt. "Studien belegen einen klaren Zusammenhang zwischen Einkommen auf der einen und Gesundheit und Pflegebedarf auf der anderen Seite", sagte sie. Niedrigverdiener würden durch eine Pflegeprämie finanziell besonders stark belastet, außerdem sei bei ihnen ein schwererer Verlauf von Krankheiten und ein höherer Anteil Pflegebedürftiger feststellbar als bei Gutverdienenden, sagte Mascher.

In einem Punkt sind sich jedoch alle Experten einig: Bei der Pflegeversicherung entwickelt sich ein großes Finanzproblem. Die SPD-Gesundheitsexpertin im Bundestag, Mechthild Rawert, sagte: "Dass die Kosten der Pflegeversicherung in den nächsten Jahren weiter steigen werden, ist aufgrund des demografischen Wandels unbestritten."

Nur gehen die Schätzungen über das nötige Geld bei Experten weit auseinander - da Faktoren wie Gesundheitsentwicklung der Menschen, Konjunktur und Arbeitsmarktlage, aber vor allem die demografische Entwicklung hineinspielen. Eins ist klar, die Zahl der Pflegebedürftigen steigt weiter - im Jahr 2050 wird die Baby-Boomer-Generation das Alter erreichen, in dem viele Menschen Pflege brauchen.

Der Sozialverband Deutschland schlägt deshalb vor, statt einer Extra-Prämie die private Pflegeversicherung in den Solidarausgleich mit einzubeziehen. Zudem will er für die Finanzierung der Pflege auch Steuereinnahmen heranziehen - damit nicht allein gesetzlich Pflegeversicherte die Kosten tragen müssen.

Im schwarz-gelben Konzept schimmert die Hoffnung auf den Kapitalmarkt durch. Ein Prinzip, das viele Riester-Sparer schmerzhaft zu spüren bekamen, als ihre fondsbasierten Verträge durch die Finanzkrise an Wert verloren. Selbst in der Union sieht mancher deshalb die Pläne kritisch. Norbert Blüm, der Erfinder der Pflegeversicherung, sagt: "Wenn man die soziale Sicherung nach dem Kapitaldesaster der letzten Monate auf Kapitaldeckung umstellen will, dann muss man in den letzten zwei Jahren schon auf einem Eisberg gelebt haben."

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