Soziologe über Armut in Großbritannien: "Die Entfremdung ist überall spürbar"

Ursachen der Gewalt: Seit den 70ern gibt es einen schleichenden Prozess der Kriminalisierung von Armut, sagt der Londoner Soziologe Jeremy Gilbert.

Nachts in den Straßen von Brixton: "Die Gewalt ist eine Reaktion auf das Verhalten der Polizei." Bild: dpa

taz: Herr Gilbert, sind Sie über die Ausschreitungen in London überrascht gewesen?

Jeremy Gilbert: Nein, überhaupt nicht. Selbst im traditionell eher fügsamen Großbritannien hat es niemals Sozialkürzungen in einem solchen Umfang wie heute gegeben, ohne dass sie mit Gewalt beantwortet wurden. Diese Unruhen wurden durch die Segregation derjenigen, die nichts besitzen, ausgelöst. Ich lebe seit 20 Jahren in den Stadtteilen, in denen die Gewalt ausgebrochen ist, und die Entfremdung der Jugendlichen, besonders der jungen Männer, ist überall spürbar. Schon bei den Protesten gegen die Erhöhung der Studiengebühren im vergangenen Winter wurde deutlich, wie stark das Bedürfnis nach einem Universitätsabschluss auch in den Arbeitermilieus geworden ist. Ohne Abschluss sind die Chancen auf ein würdiges Leben äußerst gering.

Im Unterhaus wurden aber die mangelnden Befugnisse der Polizei für die Gewalt verantwortlich gemacht.

Die Gewalt ist eine Reaktion auf das Verhalten der Polizei. Seit Mitte der 1970er gibt es einen graduellen Prozess der Kriminalisierung von Armut, der in erster Linie männliche afrokaribische Jugendliche anvisiert. Seit Thatcher sind davon allerdings auch weiße Jugendliche aus Arbeitermilieus betroffen. Selbst ich bin letztens in Südlondon von einem Polizisten angehalten worden, als ich mit einem jüngeren Freund die Straße entlanggegangen bin. Für mich ist das eine Ausnahme, für viele Jugendliche aber Alltag. Sie sind ASBOs ausgesetzt …

einer Art einstweiliger Verfügung wegen "asozialem" Verhalten, das zum Beispiel den Aufenthalt in Innenhöfen oder Treppenhäusern untersagt …

… und im Unterhaus wurde die Einführung besonderer Ausgangssperren für Jugendliche debattiert. Zusätzlich existieren bereits informelle Ausgangssperren, wenn etwa Polizisten nach einer bestimmten Uhrzeit wahllos Jugendliche auf der Straße kontrollieren. Die Kriminalisierung von Armut ist jedoch weniger grobschlächtig als noch in den 1970ern, als Polizisten auch ohne Grund auf Schwarze eingeschlagen haben. Heute sind die Vorgänge subtiler, aber auch intensiviert. Entscheidend ist dabei der Besitz von Wohneigentum. In Walthamstow, wo ich lebe, hat die Eigentum besitzende Mittelklasse keine Ahnung von den Lebensverhältnissen in den Blöcken mit Sozialwohnungen. Wäre ich nicht früher einmal in antirassistischen Initiativen involviert gewesen, wüsste ich auch nichts darüber. Für meine Nachbarn müssen die Ausschreitungen daher wie ein spontaner Ausbruch von willkürlicher Gewalt aussehen.

ist Dozent für Cultural Studies an der University of East London. Zu seinen Forschungsgebieten zählen Politische Theorie sowie Formen politischer Kollektivität im 21. Jahrhundert.

Aber warum hat sich die Gewalt gegen Geschäfte und nicht gegen die Polizei gerichtet?

Das stimmt ja so nicht. In Hackney, wo es die meisten Verhaftungen gab, wurde eine Polizeistation angegriffen. Aber die Randalierer haben ein komplexes Verhältnis zur Konsumkultur, die ihnen immer wieder als die einzige Quelle von Selbstwertgefühlen vorgeführt wird. Bei den Krawallen ist ein "politisch Unbewusstes", wie es der Theoretiker Fredric Jameson ausdrückt, im Spiel - eine symbolische Dimension, die Ausdruck eines Bedürfnisses nach etwas ist, von dessen Genuss man ausgeschlossen wird. Dass sich die Gewalt nicht nur gegen große Ladenketten, sondern auch gegen kleine lokale Geschäfte richtete, beweist nur, wie stark die Unterschiede in den einzelnen Communities sind. Selbst ein kleiner Geschäftsmann, der von der Pleite bedroht ist, kann sich nicht in die Lage der ärmsten Jugendlichen versetzen.

Inwiefern ähneln die heutigen Ausschreitungen den Brixton Riots von 1981?

Die öffentliche Reaktion ist die gleiche. Die Brixton Riots wurden damals genauso verteufelt wie die heutigen Ausschreitungen. Erst kürzlich schrieb die Daily Mail mit Bedauern, dass die Ausschreitungen nicht wie die "guten" Brixton Riots seien, und die liberale Linke ist der gleichen Meinung. Hier werden die Ausschreitungen an einem nicht existenten Ideal gemessen und verurteilt. Aber es gibt einen Unterschied. 1981 existierten antirassistische Organisationen, die die Belange der Randalierer politisch artikulieren konnten. Heute sind die Jugendlichen jedoch sowohl von den Traditionen der Arbeiterbewegung als auch von den offiziellen politischen Institutionen ausgeschlossen. Nur religiöse Gruppen interessieren sich noch für sie. So bleibt ihnen als einzige Möglichkeit, auf die Straße zu gehen oder unsichtbar zu bleiben. Es existiert kein öffentliches Bewusstsein darüber, wie weit entfernt von demokratischen Traditionen sie leben.

Die Linke ist daran aber nicht ganz unschuldig. Anstatt diese Jugendlichen sichtbar zu machen, theoretisiert sie lieber über kommende Aufstände oder Alain Badious Idee von "Wahrheit als Ereignis".

Keine dieser Theorien hat in Großbritannien eine große politische Wirkung, weil es hier keine revolutionäre Tradition gibt. Selbst die Arbeiterbewegung wird von der parlamentarischen Auseinandersetzung durch die Labour Party beherrscht, die selbst legitime politische Gewalt wie Streiks eher ablehnt. Deshalb wird auch ein Labour-Politiker wie Ed Milliband kein Verständnis für die Riots äußern.

Wird sich das politische Klima in England durch die Randale verändern?

Ich bin da pessimistisch. Solange die Mittelklasse die Marginalisierten als Bedrohung ihres Lebensstandards begreift, anstatt gemeinsame Interessen gegen die Reichen zu artikulieren, wird es eher einen Schwenk zum Rechtspopulismus geben - auch weil die Labour Party die Situation nicht begreift. In der britischen Politik existiert kein Bewusstsein darüber, dass eine bestimmte Form von Ökonomie zwangsläufig Ungleichheit produziert. Zwar dominiert selbst bei Politikern wie Premierminister David Cameron die Vorstellung, dass soziale Gerechtigkeit erstrebenswert ist. Aber die Politik ist unfähig zu begreifen, dass man dies nicht mit Initiativen zur Vergrößerung individueller Chancen erreicht, sondern nur durch eine Politik der Umverteilung. Der Zeitpunkt, an dem die parlamentarische Linke diese hätte durchsetzen können, ist jedoch längst verstrichen, weil ihnen in den entscheidenden Momenten wie der Bankenkrise das Rückgrat gefehlt hat.

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