Soziologe über Fetischisierung des Geldes: "Geld erfüllt religiöse Funktionen"

Wir müssen uns von der Fetischisierung des Geldes befreien, warnt der Soziologe Christoph Deutschmann.

Geld als eine natürliche Verlängerung des Ich: Was mein Geld kann, das kann und bin ich. Bild: dpa

taz: Herr Deutschmann, ist die derzeitige Krise ein Traum für Soziologen? Alle grundlegenden Annahmen, die man hat, so scheint es, werden noch mal durchgerüttelt.

Christoph Deutschmann: Leider stimmt das so nicht. Die Finanzwelt ist nämlich bislang kein wichtiges Forschungsfeld der Soziologie; ich hoffe, dass sich das jetzt ändern wird. Wir sind auch keine Spezialisten für die spekulativen Kettenbrief-Konstruktionen, deren Zusammenbruch wir gerade erleben. Aber wir können die sozialen Hintergründe und gesellschaftlichen Widersprüche untersuchen, die ja in dieser Krise eine große Rolle spielen und sich schon seit langem abzeichnen.

Welche sozialen Hintergründe sind denn betroffen? Und von welchen Widersprüchen?

Die privaten Finanzvermögen sind seit langer Zeit viel stärker als die Realwirtschaft gewachsen. Dadurch hat sich eine Überliquidität an den Finanzmärkten aufgestaut, die jetzt vernichtet wird. Die Mittelschichten wurden in eine prekäre Lage gebracht. Viele haben ihr Geld in Aktien, Fonds und Finanzmarktprodukten investiert, und das ist jetzt weg. Außerdem: Wenn die Investmentbank, bei der ich Kunde bin, die Firma zerlegt, in der ich arbeite, dann habe ich zwei Seelen in meiner Brust. Als Aktionär muss ich zustimmen, weil es meine Rendite optimiert, als Beschäftigter aber bin ich negativ betroffen. Die Mittelschichten haben sich selbst in eine paradoxe Lage hineinmanövriert. Deswegen interessiere ich mich als Soziologe für die Finanzkrise, denn Soziologie ist ja genau für solche Paradoxien zuständig.

Wird die Gesellschaft dieses Paradox in einem Jahr verinnerlicht oder verkraftet haben?

Was genau passieren wird, kann im Moment kein Mensch sagen. Im Prinzip aber ist ganz klar, was geschehen muss: Die Vermögensbestände und damit die Schulden - Vermögen sind immer Schulden, das wird oft vergessen - müssen auf ein Maß reduziert werden, das von der Gesellschaft bewältigt werden kann. Es wäre natürlich besser, wenn das in einer politisch kontrollierten Weise geschähe, und nicht durch einen Crash, wie jetzt. Aber weil schon seit langem politisch nichts zum Abbau der Überliquidität an den Finanzmärkten unternommen wurde, ist es nun zum Crash gekommen.

Da scheint Deutschland wegen der Scheu vor Aktien noch ganz gut dazustehen.

Ja, aber das sieht man erst jetzt so. Vor der Krise hat sich die Finanzindustrie über die in Deutschland noch immer relativ ausgeprägten Vorbehalte gegen die Aktie beklagt - man hat sich über die traditionelle Risikoscheu der Deutschen mokiert. Jetzt auf einmal wird diese scheinbar antiquierte Risikoabneigung in einem anderen Licht gesehen.

Wenn Sie sich das ansehen und die Mittelschicht betrachten: Sind das nun alles vernünftige Leute?

Bei vielen mittelständischen Aktionären und Spekulanten kann man beobachten, dass der finanzielle Reichtum eine Art Tunnelblick zur Folge hat: Sie sehen nur noch das Geld und die finanziellen Gewinnchancen, alle anderen sozialen Rücksichten geraten aus dem Blick. Es wird zum Beispiel vergessen, dass Weizen und Reis nicht nur Spekulationsobjekte, sondern auch Lebensmittel sind. Die Leute geben sich großen Selbsttäuschungen hin und erhalten jetzt die Quittung dafür.

Was sind denn die Mechanismen der Finanzkrise?

Diese Mechanismen sind im Prinzip bekannt und oft beschrieben worden. Zuerst kommt es zum Aufbau einer Spekulationsblase, die freilich von den Beteiligten zunächst nicht als solche erkannt wird. Die Akteure schaukeln sich in ihrer Geldillusion gegenseitig hoch, man kauft Aktien, Hypothekenkredite und andere Finanzprodukte. Die wachsende Nachfrage lässt den Wert der Anlageobjekte steigen, und das treibt den Kaufrausch weiter an. Irgendwann geht es nicht mehr weiter. Dann entsteht ein Verkaufsdruck, die Manie kippt um und es kommt zur Panik und zum Crash. Aber die Akteure sind nicht in der Lage, die Entwicklung vorauszusehen. Sie glauben regelmäßig, dieses Mal sei alles anders und werden erst hinterher eines Besseren belehrt.

Im Moment hat Geld ja noch das religiöse Moment. Sie hatten es als sinnhafte Bewältigung des Unbekannten beschrieben …

… ja, Geld erfüllt in unserer Gesellschaft durchaus religiöse Funktionen …

wird dieses religiöse Moment durch die Krise abgeschwächt?

Für die Moderne ist ja charakteristisch, dass die Religionen, eine nach der anderen, entzaubert, das heißt als menschliche Projektion und Konstruktion entlarvt werden. Das haben die traditionellen Religionen, zunächst das Christentum, dann aber auch die anderen Religionen seit der Aufklärung erfahren müssen. Und ich denke, das werden wir über kurz oder lang auch beim Geld erleben. Auch die Dynamik des Kapitalismus, wirtschaftliches Wachstum und die damit immer verknüpften Finanzkrisen sind keine Naturnotwendigkeiten, sondern werden von Menschen gemacht und können auch durch Menschen geändert werden.

Und was wird anders werden müssen?

Eine Gesellschaft, die durch nichts anderes mehr zusammengehalten wird als durch den Markt, und die den finanziellen Erfolg zum obersten Lebensziel erhebt, wird Probleme bekommen. Geld ist ja nicht nur ein Tauschmittel, sondern ein Medium, das Individualisierung und persönliche Unabhängigkeit mitten in der Gesellschaft ermöglicht, aber in einer Gesellschaft, die uns alle in einer unvorstellbaren Weise voneinander abhängig gemacht hat. Diese Abhängigkeit vergessen wir gern und werden erst zwangsweise mit ihr konfrontiert, wenn das Finanzsystem nicht mehr funktioniert, wie in der gegenwärtigen Krise. Jetzt entdecken wir auf einmal, dass wir auf gesellschaftliche Institutionen anderer Art angewiesen sind, zum Beispiel auf den Staat, den der Zeitgeist gerade eben noch am liebsten auf dem Müllhaufen entsorgt hätte. Die viel zitierte "Individualisierung" ist selbst etwas Gesellschaftliches, nämlich durch Geld erst Ermöglichtes. Von der Fetischisierung des Geldes und des finanziellen Erfolges werden wir uns verabschieden müssen.

Stattdessen?

Wir müssen den finanziellen Tunnelblick des Vermögensbesitzers überwinden und eine soziale Intelligenz entwickeln, die die Realität der Gesellschaft nicht nur im Spiegel der Börsenkurse zur Kenntnis nimmt. Dem Vermögensbesitzer erscheint sein Geld als eine natürliche Verlängerung seines Ich: Was mein Geld kann, das kann und bin ich. Dass es nicht das Geld ist, das für mich arbeitet, sondern immer die anderen Menschen, gerät in Vergessenheit. Wir müssen lernen, genauer zu unterscheiden, was wir wirklich selbst können, und dem, was wir nur dank unseres Geldes "können". Und wir müssen lernen, wirklich mit anderen Menschen zu kooperieren, statt nur unsere finanzielle Potenz auszuspielen.

Vielleicht zu einer Erhöhung des Selbstvertrauens?

Das Problem ist ja, dass die sozialen Verhältnisse es heute vielen Menschen schwer machen, ein genuines Selbstvertrauen jenseits des Geldes zu entwickeln. Geld dient oft dazu, diesen Mangel zu kompensieren. Konsum und spekulative Zockerei bieten Ersatzbefriedigungen, die über die Labilität des eigenen Selbstwertgefühls hinweghelfen.

Wenn die Mittelschicht aus diesem ganzen Crash gestärkt hervorginge, was wäre das Szenario? Und wenn sie geschwächt daraus käme, was würde das für die gesamte Gesellschaft bedeuten?

Es ist sehr schwer zu sagen, was mit der Mittelschicht insgesamt geschehen wird. Es wird aber nicht nur Opfer, sondern auch Gewinner geben. Aus den Erfahrungen mit bisherigen Finanzkrisen weiß man, dass es in der Regel zu großen sozialen Umverteilungen kommt: Gewinner sind die "Insider", die rechtzeitig ein- aber auch wieder aussteigen, Verlierer die "Amateure", das heißt die Masse der Kleinanleger, die meist zu spät einsteigen, in den Crash hineingezogen werden und dann alles verlieren.

Was bedeutet die Finanzkrise für unser Elitenbild? Eigentlich hatten wir ja das Gefühl, Elite ist schuld.

Die Eliten haben jetzt ein ganz großes Problem, weil das von ihnen bislang gepredigte neoliberale Weltbild offensichtlich bankrott ist. Wer hätte es für möglich gehalten, dass selbst in den USA eine Verstaatlichung der Banken erwogen wird? Fast scheint es, als ob die alte Stamokap-Theorie der Jusos aus den Siebzigerjahren eine Wiederauferstehung erfährt. Der Staat sei nicht die Lösung, sondern das Problem, hatte Ronald Reagan gesagt, mit dem alles angefangen hatte. Nun ist er doch die einzige Lösung, die übrig bleibt. Das wird der Arroganz der Eliten einen Dämpfer aufsetzen und sie hoffentlich nachhaltig verunsichern.

Am Anfang des Sommers waren ja alle glücklich, weil man in den USA billig shoppen konnte. War das blauäugig?

Nein, zu diesem Zeitpunkt war es nicht blauäugig. Solange der Dollar noch so billig war, warum nicht? Es kann sein, dass dieser Zustand noch weiter anhält. Wenn die Finanzkrise andauert und in den USA noch mehr Banken zusammenbrechen, dann wird der Dollar noch weiter sinken, und der Einkauf in den USA wird noch billiger. Aber es wäre eine Illusion, die Finanzkrise für eine bloß amerikanische Angelegenheit zu halten. Wir in Europa sind ebenso betroffen.

Wie stark?

Das so genannte Prekariat trifft es mit Sicherheit noch stärker als die Mittelschichten und den arrivierten Teil der Mittelschicht. Denn die Arbeitsgelegenheiten der prekär Beschäftigten hängen besonders stark daran, dass die Wirtschaft einigermaßen floriert, und sie sind von der Krise als Erste betroffen. Wenn die Kernbereiche der Wirtschaft ins Trudeln geraten, wird es dem Prekariat noch schlechter gehen.

Wenn der nächste Messejob nicht kommt, weil weniger Firmen ausstellen?

Ja, wenn etwa BMW, Porsche, Audi ihre Autos nicht mehr absetzen können, wird das auch in diesem Bereich sehr viele Arbeitsplätze vernichten.

Und was ist mit den Hartz-IV-Empfängern? Unter dem Prekariat?

Der Staat wird sicherlich in der Lage sein, das ALG II zu bezahlen. Hier in Europa sind wir noch nicht so weit, dass ein Staatsbankrott zu befürchten ist. Aber möglich ist ein solcher Bankrott schon, wie gerade in Island. Auch in den USA muss man sich fragen, ob der Staat in der Lage sein wird, die jetzt geplanten zusätzlichen gigantischen Schulden zu tragen, ohne die Währung zu ruinieren.

Wird das den sozialen Unfrieden stärken?

Finanz- und Wirtschaftskrisen führen immer auch zu sozialen Turbulenzen. Die Arbeitslosigkeit wird zunehmen, es wird Entlassungen und Firmenzusammenbrüche geben und die Leute verlieren viel Geld. Sie werden vielleicht nicht sofort protestieren, weil sie sich zunächst um das unmittelbare Überleben kümmern müssen. Aber der Protest kommt dann sicher später. Harmonischer wird es mit Sicherheit nicht werden.

Die Menschen fangen ja jetzt an, wie verrückt Gold zu kaufen.

Gold ist auch kein wirklich sicherer Hafen. Die Zeiten können sich wieder ändern, und dann kann das Gold, wie jedes anderes Spekulationsobjekt, schnell wieder abstürzen.

Sind Sie ernsthaft beunruhigt?

Man kann in der gegenwärtigen Situation nichts ausschließen.

Interview: NATALIE TENBERG

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