Spielfilm „Anatomie d’une chute“: In die Wahrheit hineinfallen

Sandra Hüller begeistert im Spielfilm „Anatomie d’une chute“ der französischen Regisseurin Justine Triet als Schriftstellerin unter Mordverdacht.

Sandra Hüller im Jackett steht mit gefalteten Händen in einem Gerichtssaal

Sandra Hüller in „Anatomie d’une chute“ der französischen Regisseurin Justine Triet Foto: Filmfestspiele Cannes

Wann kann man behaupten zu wissen, dass etwas wahr ist? Und wie viel muss man dafür wissen? Für die Unvollkommenheit der Vorstellungen, die über solcherlei Wissen kursieren, hat Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ ein elegant suggestives Bild gefunden: „Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt.“

Von einem solchen Fallen erzählt der Spielfilm „Anatomie d’une chute“ der französischen Regisseurin Justine Triet, dem zweiten Beitrag im Wettbewerb von Cannes, nach Jonathan Glazers „The Zone of Interest“, in dem Sandra Hüller eine Hauptrolle spielt.

In Justine Triets Justizdrama gibt Hüller die Schriftstellerin Sandra, die mit ihrem Mann Samuel in einem Chalet in der Schweiz lebt. Das Paar wohnte mit dem gemeinsamen Sohn Daniel zuvor in London, in der Zwischenzeit ist man in Samuels Geburtsort gelandet, wegen finanzieller Sorgen Samuels. Sandras Karriere als Schriftstellerin hingegen läuft gut.

Zu Beginn des Films sitzt Sandra im Chalet bei einem Interview mit einer ihrer Studentinnen. Sandra weicht den Fragen aus, will lieber mehr über ihre Gesprächspartnerin erfahren. Von oben ertönt plötzlich laute Musik. Das sei ihr Mann, der gerade arbeite, so Sandras Auskunft. Wenig später brechen sie das Interview ab, der Lärm hat Überhand genommen.

Der Anwalt war ihr Liebhaber

Dann sieht man den Sohn Daniel, wie er von einem Spaziergang mit seinem Hund zurückkehrt, vor dem Haus liegt ein lebloser Körper. Es ist Samuel. Sandra ruft verzweifelt einen Krankenwagen, anschließend muss sie der Polizei Rede und Antwort stehen, wird schließlich sogar des Mordes angeklagt. Sie nimmt sich einen Anwalt, der pikanterweise eine ehemalige Liebschaft Sandras ist.

Was Justine Triet folgen lässt, ist ein mehr oder minder klassischer Gerichtsfilm in dem Sinn, dass der Großteil der Handlung dem Prozess folgt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung liefern sich dabei Argumentationsgefechte um die Frage, ob man es mit einem Mord oder doch mit Suizid zu tun hat.

Zunächst spricht viel dafür, dass Sandra im Affekt ihren Mann vom Dachbodenfenster des Chalets herabgestürzt hat. Mit jeder Wendung im Prozess kommen zudem neue unschöne Seiten von Sandras Charakter zum Vorschein. Sandra Hüller verkörpert diesen egoistischen Künstlertypus mit einer bis ins Kleinste nuancierten Ambivalenz, zwischen manipulativ und verletzlich schwankend.

Man hat nicht unbedingt Sympathien für ihre Figur, zu egozentrisch und berechnend erscheint sie. Für jede Anschuldigung hat sie allerdings Gegenargumente, die auch den Mann Samuel in einem wenig vorbildlichen Licht erscheinen lassen. Die Verstrickungen, in die eine Beziehung sich hineinentwickeln kann, kommen so nach und nach zutage und ergeben ein immer komplexeres Bild. Und die Frage, was eigentlich wahr an der Sache ist, gerät irgendwann zum Akt der Entscheidung. Sandra Hüller liefert mit dieser Rolle ein überzeugendes Plädoyer dafür, dass die Jury sie für preiswürdig befindet.

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