Spielfilm „Die Erbinnen“: Albtraum in geschlossenen Räumen

„Die Erbinnen“ erzählt von versteinerten Verhältnissen in Paraguay. Die Hauptrolle hat ein in die Jahre gekommenes lesbisches Paar.

Eine ältere Frau ist im Profil zu sehen, sie sitzt am Steuer eines Autos

Die Verkehrsregeln überwindet Chela leichter als ihre Schüchternheit Foto: grandfilm

Durch einen Türspalt oder ein Schlüsselloch auf Szenen des eigenen Lebens zu schauen, das ist Stoff für einen Albtraum. Marcelo Martinessis Spielfilmdebüt „Die Erbinnen“ beginnt mit einem solchen Blick aus dem Dunkel eines Nebenzimmers heraus auf das Geschäft, das sich jenseits der angelehnten Tür im Speisezimmer einer mit neoklassischem Wohlstandsinventar angefüllten Villa abspielt.

Chiqui (Margarita Irún), eine redegewandte ältere Frau in burschikosem Outfit, führt snobistisch aufgetakelte Damen herum, die sich Kristallgläser, Porzellan, Bestecke und Möbel anschauen, Preise erfragen und sich dann doch gelangweilt abwenden. Chela (Ana Brun), Chiquis Lebensgefährtin, ist die Frau, die sich im Hintergrund verbirgt.

Ihre Wahrnehmung, ihre Scham und Schweigsamkeit sind der Kristallisationspunkt einer feinen, beiläufig in Stimmungen erzählten Beziehungsgeschichte unter Frauen, mit der Marcelo Martinessi scheinbar von leichter Hand ein Porträt der Oberschicht seiner Heimat Paraguay gelingt.

Da ist noch reichlich Besitz aus einer seit vier oder fünf Generationen scheinbar stillgestellten Zeit, Edelramsch vom Beginn des 20. Jahrhunderts oder früher, gravitätische Objekte in düsterem Ambiente. „Die Erbinnen“ scheinen nie gearbeitet zu haben, Schulden wurden angehäuft, denen Chela hilflos gegenübersteht. Ihr düpierter Blick begleitet die geschäftige extrovertierte Freundin, während sich in ihrem alt gewordenen Mädchengesicht ein großes Fragezeichen über die Ursache der wirtschaftlichen Kalamität abzeichnet.

Ambiente der freundlichen Arroganz

Da ist eine Tochter Nutznießerin von privaten Reichtümern, die zeichenhaft die über fünfzigjährige Herrschaft des deutschstämmigen Diktators Alfredo Stroessner repräsentieren. Noch tun sich die Damen in Paraguays Hauptstadt Asunción abseits der bourgeoisen Männerwelt zusammen und treffen sich, geschmückt mit üppigen Colliers und bargeldprallen Handtäschchen, zu Bridge- und Poker-Partien – ein Ambiente der freundlichen Arroganz, das Marcelo Martinessi teils wehmütig, teils satirisch zerlegt.

Chelas und Chiquis Kampf gegen den Abstieg ist dagegen auch durch immer radikalere Verkäufe aus Chelas Bestand nicht aufzuhalten. Die beiden, legt das Drehbuch nahe, sind als Paar im Kreis der Damen akzeptiert, sofern Chela bei all dem Geplauder und Getratsche nicht offen über sich, ihre Beziehung und die Zukunft spricht.

„Die Erbinnen“ ist eine Parabel über die versteinerten politischen Verhältnisse in Paraguay, verknüpft sie jedoch eng mit der anrührenden Binnengeschichte einer in die Jahre gekommenen Liebesbeziehung unter Frauen. Die alte, unter Alfredo Stroessner genährte Oberschicht ist nach einer kurzen demokratischen Zwischenphase seit 2012 durch einen Putsch wieder an der Macht. Oberste Maxime scheint das Party-Geplauder zu sein, mit dem die privilegierten Damen die Anpassung verinnerlicht haben.

Chela, die Protagonistin des Films, kann gar nicht anders, als das Spiel mitzuspielen, um die Fassade zu wahren. Solange sie als Erbin dazugehört, scheint ihr Außenseiterinnenstatus als lesbische Frau tabu. Marcelo Martinessi schildert sehr nahe an den Regungen ihrer Unsicherheit und Einsamkeit, welchen Schock die Abwärtsspirale in ihr auslöst, aber auch, welche Chancen auf ein anderes, neues Lebensgefühl die Krise eröffnen könnte. Chelas Albtraum gewinnt Untertöne einer Emanzipationsgeschichte.

Schüchternheit ist schwerer zu überwinden als Regeln

Es stellt sich heraus, dass die dominante Chiqui derart unsolide gewirtschaftet hat, dass sie wegen ihrer Schulden angezeigt wurde und einen Haftbefehl kassiert hat. Chela, die keinen Führerschein besitzt und sich daher immer weigerte, den alten Mercedes der beiden zu chauffieren, muss sich plötzlich mit dem Horror auseinandersetzen, wie sie die Autobahnauffahrt schafft, um ihre Freundin im Frauengefängnis von Asunción zu besuchen. Die Regeln zu brechen, scheint für Mercedes-Fahrerinnen kein Problem zu sein, die eigene Schüchternheit zu überwinden, schon.

Martinessi zeigt seine Protagonistin fast ausschließlich in geschlossenen Räumen. Sightseeing in Asunción erlaubt er den neugierigen Zuschauerblicken nicht. Chela nimmt ihr eigenes inneres Gefängnis mit, wenn sie sich auf den Weg in das übervolle Frauengefängnis macht. Der verwinkelte Backsteinbau, in dessen Innenhof ein lautes buntes Chaos der unterschiedlichsten Frauen herrscht, konfrontiert sie mit einer Gegenwelt, in der sich die delinquente Chiqui mithilfe großzügig verteilter Zigaretten selbstverständlich eine kleine Machtposition geschaffen hat, für die sie Chelas klammen Geldbeutel in Anspruch nimmt.

Geld für die Friseurin im Knast braucht Chiqui, sie fordert selbstverständlich Besuche und Hilfsdienste, blind für die Abwehr und zunehmende Distanz ihrer Gefährtin. Wie bei routinierten heterosexuellen Ehepaaren zeigt sich das zerbrechende Liebesverhältnis an der Sprachlosigkeit und dem zunehmenden Widerwillen Che­las, sich den Ansprüchen ihrer Partnerin zu unterwerfen.

„Die Erbinnen“. Regie: Marcelo Martinessi. Mit Ana Brun, Margarita Irún u. a. Paraguay/Uruguay/Deutschland/Brasilien/Norwegen/Frankreich 2018, 95 Min.

Das Genre-Thema Gewalt in einem autoritären Gefängnissystem steht in Martinessis Gesellschaftsporträt nicht im Vordergrund. Vielmehr zeigt der Film das Gefängnis nicht ohne Sympathie als eine Art Sonderwirtschaftszone, in der die Frauen scheinbar autonom wie auf einem Marktplatz handeln. Che­la hört einmal erschrocken einer Frau zu, die ihren brutalen Ehemann umbrachte – eine Begegnung, in der die Mörderin mehr Würde ausstrahlt als die juwelenbehangenen Damen, mit denen Chela bald das dringend nötige Geld verdient.

Neues Begehren und alte Verhältnisse

Eine weitere Gegenfigur ist das Hausmädchen, eine indigene junge Frau, die weder lesen noch schreiben kann und kaum Lohn erhält. Dieser Ersatz für Chiqui ist die einzige, die zu begreifen scheint, in welcher Krise Chela steckt. Sie ist es, die der Einsamen zur Hand geht, die Verkaufsaktionen betreut und ab und zu zeigt, dass sie etwas von Fußmassagen versteht – eine Fertigkeit, die sie bei Nonnen in einem Heim erlernte, um damit ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Mit einer Fülle solch beiläufiger Momente über den Frauenalltag in den unterschiedlichen sozialen Klassen ist Marcelo Martinessis Film eine unaufdringlich präzise Studie seines Heimatlandes.

Wann immer Chela das nur noch von wenigen Lampen beleuchtete Haus verlässt, sitzt sie am Steuer – nervös, ungeübt, aber von Mal zu Mal sicherer in ihren Handgriffen. Ana Brun, eine Laiendarstellerin aus der Theaterszene der Hauptstadt, die noch nie vor einer Kamera stand, verleiht dieser Figur einer schüchternen Frau von sechzig Jahren eine besondere Aura.

Die Ironie will es, das Chela auf ihren Fahrten zum Gefängnis eine Bekannte aus der Gesellschaft mitnimmt, die ihr ein Fahrtgeld geradezu aufdrängt, vielleicht weil die schwierige Situation längst Stadtgespräch ist. Chelas anfängliche Entrüstung macht einem nüchternen Pragmatismus Platz, als sich herausstellt, dass die illustren Damen alle lieber von einer Chauffeurin ihresgleichen als einem Taxifahrer gefahren werden.

Beim Warten auf die Kundschaft entdeckt Chela schließlich Angie (Ana Ivanova), eine junge, androgyn wirkende Frau, die sich im Kreis der älteren Damen sichtlich langweilt. Gespräche über Lieblingsbücher, Che­las Vater und Angies Männergeschichten bringen die beiden im Auto einander näher. Noch einmal neu entdeckt Chela ihren Körper, ihr Begehren. Sie müsste sich nur trauen. Am Ende, immerhin, setzt sie mit ihrer in der Krise gewonnenen Sicherheit über das Auto endlich ein Zeichen ihrer Loslösung aus den alten Verhältnissen.

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