Spielfilm „Nocturama“ im Kino: Es musste so kommen

„Nocturama“ über einen fiktiven Pariser Anschlag von Jugendlichen ist hochaktuell. Auch deswegen, weil in ihm soziale Thesen verweigert werden.

Jemand mit Maske vor einem Spiegel

Das Kaufhaus entlarvt die Subjektivitäten der Protagonisten als austauschbare Masken: Szene aus „Nocturama“ Foto: Real Fiction

Die Uhr am Insert zeigt 14.07 Uhr, ein Verweis auf ein revolutionäres Datum. Auf den Handy-Displays der Jugendlichen erscheinen dagegen Nummern. Alles erweckt den Anschein einer genau getakteten Operation. Einer Operation, die im doppelten Sinne im Untergrund verläuft, dem räumlichen der Pariser Metro sowie unter der Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung.

Die Montage des Films ordnet sie neu. Manchmal entsteht der Eindruck der Simultanität einzelner Abläufe, wie bei zwei Protagonisten, die sich dann auf den gegenüberliegenden Bahnsteigen einer Station gegenüberstehen.

Manchmal sind die Abläufe aber auch zeitlich verschoben: Eine junge Frau blickt aus dem Hotelzimmer auf die Jeanne-d’Arc-Statue an der Place des Pyramides; erst später sehen wir, dass sie diese auf einem Hochgerüst stehend speziell präpariert hat.

Irgendwann kommen zu den Bewegungen durch die Tunnelschächte, in denen sich die Figuren mit einer ähnlich mysteriösen Bestimmtheit wie in Alan Clarkes beklemmendem Film „Elephant“ (1989) orientieren, dann auch noch Objekte hinzu, die an strategischen Orten hinterlegt oder versteckt werden.

Eine Art „Benetton-Familie“

Beinahe eine Stunde von Bertrand Bonellos Film „Nocturama“ vergeht mit diesen Abfolgen, zu denen auch die eine oder andere ungeplante Abweichung gehört. Dennoch handelt es sich mehr um ein abstraktes Planspiel als um die spannungsgetriebene Ausführung einer Tat: Der Thriller wird zum leeren Gerüst, in dem Zeichen und Signale erratisch blinken.

Über die Idee, welche die einzelnen Aktionen zusammenhält, den vermutlich sinistren Plan, wird lange Zeit kein Wort verloren. Von Bedeutung ist nur, dass es ihn gibt; dass die Protagonisten anscheinend wissen, was sie tun (um einen anderen berühmten Film, über eine weniger determinierte Jugend ins Spiel zu bringen), während wir es als Zuschauer nur ahnen können.

In einem Frankreich im Ausnahmezustand riss der Film mit seinem Fokus auf die einheimische – nicht identitär ­besetzte – Jugend Themen an, die ­keiner hören wollte

Bonellos Strategie läuft jedoch auch auf kein Rätsel hinaus, das es zu entschlüsseln gelte. Einzelne Clous, die auf die ökonomische Misere hindeuten, sind zwar eingestreut: Eine Nachrichtensendung berichtet von 50.000 Entlassungen in der Großbank HSBC, die Kandidaten eines Bewerbungsgespräch tauschen sich über die Jugendarbeitslosigkeit aus. Doch Bonellos Filme sind nicht sozialrealistisch unterfüttert, entsprechend vage bleiben die Motivationen seiner Patchwork-Gruppe, in der auch auf Ethnien- und soziale Klassenunterschiede keine Rücksicht genommen wird.

Die Gesichter dieser radikalisierten „Benetton-Familie“ sind jung, schön und zugleich seltsam unspezifisch, ja unlesbar. Auf viel mehr als ein diffuses Unbehagen mit dem Status quo, auf ein allgemeines Gefühl des Unbehaustseins in einer wirtschaftsliberal verformten Demokratie lassen sie sich nicht einschränken. Wenn es in der Mitte des Films schließlich knallt, dann an gleich mehreren symbolischen Fronten: beim Innenministerium, vor der Börse, an einem Bankengebäude in La Défense, auch die Statue von Jeanne d’Arc steht in Flammen.

Ein Bild der Unendlichkeit

Entscheidend ist der Plan, und seine Umsetzung als Geste: ein Akt der Unterbrechung. Auch in den anderen Filmen des 48-jährigen Franzosen, von „De la guerre“ über „L’Apollonide“ („Haus der Sünde“) bis „Saint Laurent“, geht es um die Beschreibung einer Sensibilität, um die Ausmalung eines Geisteszustands, der sich wie ein Schwindel über eine Gruppe, ein Milieu legen kann und schließlich von einer größeren Veränderung zeugt.

Zu solchen Zustandsbeschreibungen gehört auch die Abgeschlossenheit eines Raums, einer Innenwelt. Das kann ein Bordell sein, das als Ort des sozialen Austauschs seine Bedeutung verliert, die Wohnung eines Couturiers, die wie er selbst eine museale Anmutung erhält, oder, wie nun in „Nocturama“, das Kaufhaus Samaritaine: ein Konsumtempel, angefüllt mit jenen edlen Markenartikeln, die immer mehr als ihre Funktion einen Lifestyle, eine Zugehörigkeit, eine Persönlichkeit vermitteln.

Diese Zweiteilung von „Nocturama“ ist sein besonderes Kennzeichen. Auf den Tag folgt die Nacht, auf die terroristische Aktion der Rückzug, auf das netzwerkartige Labyrinth der Metro (und der Stadt) ein vertikales Gebäude mit spiralenförmigem Treppenhaus. Mehrmals wird betont, dass darin die Verbindung zur Außenwelt gering, fast gekappt ist; man hört und sieht nichts, und als die Fernseher am Ende angehen, zeigen sie schon die Außenfassaden des Gebäudes – eine unheimliche Mise-en-abyme, ein Bild der Unendlichkeit, das immer nur auf sich selbst zurückstrahlt.

Diffuse Abneigung der herrschenden Gesellschaft

Ohne Aussicht auf ein Außen wirkt alles aussichtslos: Schalldicht ist die Falle, in der sich auch die Gewalt irgendwann mechanisch abzuspulen beginnt. Nicht dass die jugendlichen Protagonisten ihr Schicksal ereilt, steht dabei auf der Waage. Sie sind gar nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Der Fluchtpunkt des Films ist wie eine Rückblende auf die Zeit vor der Tat, so als hätte es nie ein Bewusstsein dafür gegeben, den eigenen Zustand zu reflektieren, und auch keinen Plan, um diesen zu überschreiten.

Entfernt erinnert der Schauplatz des Kaufhauses an George A. Romeros „Dawn of the Dead“ („Zombie“, 1978), in dem eine Horde Zombies sich mit Menschen in einer Shoppingmall ein Katz-und-Maus-Spiel liefert – die Ununterscheidbarkeit von Zombie und Mensch wurde als Kritik am Konsumismus ausgelegt. Bonello betreibt weniger Kapitalismusschelte, vielmehr zeigt er eine Gruppe, die nur eine diffuse Abneigung der herrschenden Gesellschaft eint.

Ihre Perspektivlosigkeit erweist sich jedoch als schlechter Kitt, der an dem Zufluchtsort schnell zu bröckeln beginnt. Das Bemerkenswerte an „Nocturama“ ist, dass sich dieser Prozess der Zersetzung nicht psychologisch, von innen heraus vollzieht. Vielmehr scheint es das Kaufhaus zu sein, das, zugleich Bühne und Requisitenkammer, die Subjektivitäten der Protagonisten Schritt für Schritt als austauschbare Masken entlarvt.

Es ist ein so bezeichnender wie surrealer Moment, als einer der Jugendlichen in blauem Nike-T-Shirt und grauer Hose beim Flanieren auf sein Alter Ego als Schaufensterpuppe trifft. Doch auch die weniger ostentativen Manöver der Jugendlichen erschöpfen sich in leeren Repräsentationen: Einer nutzt die HiFi-Anlage, um sich am Sound von Willow Smith zu berauschen, ein anderer übt sich in Gangsterposen. Oder das Kaufhaus gerät zur Schlaraffenlandkulisse, wenn einem Obdachlosenpärchen wie in einer fellinesken Variante der Willkommenskultur Zutritt ermöglicht wird.

Paris est une fête

„Nocturama“ sollte ursprünglich „Paris est une fête“ nach Hemingways gleichnamigem Buch heißen. Nach den Anschlägen im November 2015 im Bataclan war das nicht mehr möglich. Die Ereignisse haben den Film auf der symbolischen Ebene überholt. Cannes wollte ihn letztes Jahr nicht zeigen. In einem Frankreich, das sich im Ausnahmezustand befand, riss der Film mit seinem Fokus auf die einheimische – nicht identitär besetzte – Jugend Themen an, die keiner hören wollte.

„Nocturama“. Regie: Bertrand Bonello. Mit Finnegan Oldfield, Vincent Rottiers u. a. Belgien/Deutschland/Frankreich 2016, 130 Min.

Dabei ist „Nocturama“ gerade in seiner Verweigerung sozialer Thesen der viel beunruhigendere, der viel zeitgemäßere Film: Er richtet seinen Blick auf einen Nihilismus, der kurz aufflammt, um im nächsten Moment unter Masken, Doubles und Doppelgängern wieder verschlungen zu werden. „Es musste passieren“, sagt Adèle Haenel als Passantin in einer Gastrolle mit großer Gelassenheit. Und es ist einer der Täter selbst, der dabei fassungslos neben ihr (und neben sich selber) steht.

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