Spielfilm „Zwei Staatsanwälte“ im Kino: Hier überlebt man nur mit Gehorsam
Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa hat den sowjetischen Roman „Zwei Staatsanwälte“ verfilmt. Stalinistischen Terror inszeniert er als kafkaeske Parabel.
Ein rostfarbenes Metalltor in der russischen Stadt Brjansk führt in eine andere Welt. Wir befinden uns in der Sowjetunion des Jahres 1937. Auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors werden echte, vor allem aber vermeintliche Oppositionelle des Regimes eingesperrt, im Anschluss an Schauprozesse hingerichtet oder in Arbeitslager verbannt.
Hinter dem Brjansker Metalltor steht ein solches Gefängnis, in dem der Geheimdienst NKWD mit äußerster Brutalität agiert. Hier kommt man relativ schnell rein, aber (lebend) kaum noch raus. Selbst Briefe von Bolschewiken der ersten Stunde, die sich verzweifelt an Behörden oder an den Genossen Stalin persönlich wenden und beteuern, dass es sich bei ihrer Verhaftung um ein Missverständnis handeln muss, werden hier erbarmungslos verbrannt. Dass einer dieser Briefe dennoch den Weg nach draußen findet, grenzt an ein Wunder.
So klopft eines Tages der Empfänger des Schreibens, ein tadellos gekleideter junger Mann, an das Tor. Er solle es mit mehr Nachdruck tun, ermahnt ihn ein Dutzend vor dem Gefängnis wartender Frauen, wohl Angehörige der Insassen. Sie trotzen der Kälte und wirken in ihrer schwarzen Kleidung wie Vorboten eines Unglücks, das beginnt, als der junge Mann schließlich das Tor passieren darf. Schon zu Beginn seines Films streut Regisseur Sergej Loznitsa düstere Indizien über den Ausgang seiner Parabel, eines Teufelskreises aus Terror, Absurdität und menschlichen Abgründen.
Nachdem der junge Mann, Alexander Kornjew (Alexander Kusnezow), sich als Staatsanwalt des Kreises zu erkennen gegeben hat, verlangt er, den Gefangenen Stepnjak (Alexander Filippenko) in Sondertrakt 5, Zelle 84 zu sprechen. Ihm schlägt offene Feindseligkeit entgegen, und der Gefängnisdirektor und seine Schergen lassen Kornjew zunächst einmal „schmoren“ und erzählen sich währenddessen Witze. Doch Kornjew ist hartnäckig, lässt sich nicht abweisen und darf den Gefangenen sprechen. Dass er ein ganz Korrekter ist, der sich nur dem Recht verpflichtet fühlt, sah man bereits an seiner Kleidung.
„Zwei Staatsanwälte“. Regie: Sergei Loznitsa. Mit Alexander Kuznetsov, Anatoliy Belyy u.a. Frankreich, Deutschland, Niederlande, Lettland, Rumänien, Litauen 2025, 118 Min.
Was der alte Bolschewik dann erzählt und zeigt, schockiert den frisch ernannten Juristen zutiefst. Die Revolution sei verraten worden, stumpfe Funktionäre vergingen sich an verdienten Genossen, erzählt Stepnjak, und dann zeigt er Kornjew Spuren von Folter an seinem Körper. Der Staatsanwalt solle nach Moskau reisen und auf die Zustände im Gefängnis aufmerksam machen. So nimmt der junge Mann den Zug in die Hauptstadt, um beim Generalstaatsanwalt (Anatoli Bely) vorzusprechen. Er will der Korruption in der Provinz, die er für einen lästigen Nebeneffekt der neuen Gesellschaftsordnung hält, Einhalt gebieten.
Ein Idealist auf verlorenem Posten
Dass Kornjews Mission einer kafkaesken Reise ins Nirgendwo ähnelt, spürt das Kinopublikum schon lange vor seiner mühsamen Zugreise, bei welcher der junge Staatsanwalt als Schlips- und Aktenkofferträger sich mit dem einfachen Volk auf unbequeme Holzbänken quetscht. Kornjew ist überzeugt, dass er mit Geduld und überzeugenden Argumenten Gutes tun und dafür sorgen kann, dass Recht und Ordnung überall im Land umgesetzt werden.
Doch was kann ein Idealist in einem von Willkür und Terror geprägten System erreichen? Hier überlebt man nur mit Gehorsam, Gewissenlosigkeit und Bauernschläue – und das auch nur auf absehbare Zeit. Paragrafen gelten nicht oder werden uminterpretiert. Parallelen zum heutigen Russland drängen sich auf.
Loznitsa hat seine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Georgi Demidow denn auch in einem Interview als ein typisch russisches Märchen bezeichnet. Für dessen Helden gelte das Motto: „Geh dorthin – aber du weißt nicht, wo 'dort’ ist. Finde es – aber du weißt nicht, was 'es’ ist.“ Dann, so der Regisseur, hätten sich im Laufe des Drehbuchschreibens auch Gogol und Kafka in die Story eingeschlichen. Das sieht man in den Amtsstuben des Films beziehungsweise ihren Korridoren und Wartezimmern. Nur Kornjews bewundernswerter Ausdauer ist es zu verdanken, dass er seine Mission zu Ende führt. Schmoren lässt man ihn überall.
Hierarchien und Einschüchterung
Waren es zu Anfang des Historiendramas noch die kalten Vorzimmer des Gefängnisdirektors, sind es in Moskau im altehrwürdigen Justizministerium die holzgetäfelten Aufenthaltsräume aus der vorrevolutionären Epoche, in der seit knapp zwei Jahrzehnten die Hüter der neuen Gesellschaftsordnung das Sagen haben. Die stalinistische Sowjetunion hat das zaristische Erbe nicht abgeschüttelt, interpretiert es nur anders. Es gibt klare Hierarchien, mit etwas Einschüchterung verschafft man sich Respekt, muss sich aber einer Reihenfolge fügen, die nur die stalinistischen Beamten kennen.
Vor seinem Warten auf die höchste juristische Instanz waren Kornjew in den erlesenen Vorhallen und Gängen bereits seltsame Dinge zugestoßen – alle sind so absurd wie symbolisch. Ein Besucher findet den Weg nach draußen nicht, Blätter eines Aktenbergs verteilen sich auf der Treppe – es gibt keine verbindlichen Regeln und keine juristische Verschwiegenheit. Dann wieder wird er von einem angeblichen ehemaligen Kommilitonen mit einem anderen Juristen verwechselt, sprich, er ist austauschbar.
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Trailer „Zwei Staatsanwälte“
Dabei kommen die Schergen des Systems sehr unterschiedlich daher. Einer wirkt ähnlich korrekt wie Kornjew, wodurch dieser sich in falscher Sicherheit wiegt. Vor den sich jovial Gebenden und den Witzeerzählern muss man sich besonders hüten: Sie agieren als die brutalen Vollstrecker der Befehle von oben. So öffnet manch Aufrechter ein Tor, kann es dann in die andere Richtung aber nicht mehr passieren. Verdeutlicht wird die Absurdität des Stalinismus in einem Witz der Gefängniswärter über den Komintern-Funktionär Karl Radek. Man fragt ihn: „Was machten Sie vor der Revolution?“ Antwort: „Ich wartete im Gefängnis.“ „Und nach der Revolution?“ Radek: „Das Gefängnis wartete auf mich.“
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