Stadtbild-Debatte: Das stört die Töchter
„Fragen Sie mal Ihre Töchter“, sagte Kanzler Merz, als er gefragt wurde, was er mit seiner Stadtbild-Aussage meine. Alles klar, haben wir gemacht.
Luise, 12 Jahre, und Helene, 15 Jahre, Berlin: „Uns stört am Stadtbild hier in Kreuzberg eigentlich nichts. Außer wenn Männer überall hinpinkeln. Das wollen wir nicht sehen und auch nicht riechen. Und vor dem ganzen Dreck in der Stadt ekeln wir uns auch. Wir haben uns angewöhnt, an besonders dreckigen Orten unsere Hosen hochzukrempeln.“
Ongoo, 40 Jahre, Berlin: „Das zunehmend sichtbare Elend im Stadtbild – das sollte uns stören! Seit Jahren beobachte ich, wie Menschen bei Hitze, Regen und klirrender Kälte auf der Straße sitzen. Ihrer Menschenwürde beraubt, müssen sie um ein paar Cents betteln. Mit der Verschärfung des Bürgergelds, die Merz plant, wird das noch schlimmer werden. Was macht das mit uns? Wir stumpfen ab und verlieren Teile unserer Menschlichkeit. Außerdem diszipliniert uns der Anblick verarmter Menschen: Bloß brav malochen gehen und die Füße stillhalten, egal wie schlecht unsere Arbeitsbedingungen sind, damit wir nicht genauso enden.“
Simin, 38 Jahre, Saarbrücken: „Was mich am Stadtbild stört, ist der viele Beton. Überall Steine und so wenig Grün! Dass man mit dem Fahrrad nicht sicher von A nach B kommt, weil Fahrradwege fehlen. Und was mich ganz besonders stört, ist, dass ich als Frau nicht mehr nach 18 Uhr joggen kann – und das nicht mal durch die Innenstadt! Weil man immer von irgendwem blöd angemacht wird, weil man sich immer unter irgendeiner Brücke sorgen muss, dass etwas passiert. Und das liegt nicht an Hautfarbe oder Herkunft, sondern an einem einzigen Problem: Männern.“
Elcin, 31 Jahre, Berlin: „Das Stadtbild ist für mich kein Problem, aber das rassistische Bedrohungsbild, das Friedrich Merz zeichnet! Er will uns, typisch rechtspopulistisch, Angst vor migrantischen Männern machen. Dabei sind deutsche Männer genauso gefährlich. Aber über die spricht er nicht. Die Sicherheitsbedenken von Frauen interessieren Merz und die CDU doch gar nicht! Er instrumentalisiert uns Frauen nur, um Rassismus zu verbreiten. Außerdem spricht Merz allgemein von ‚Migranten‘. Heißt das, auch eine nicht-weiße Person mit deutscher Staatsbürgerschaft stört für ihn das Stadtbild? Daran stört mich ehrlich gesagt das Bild des Grundgesetzes, das der Bundeskanzler zu haben scheint.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Nici, 46 Jahre, Berlin: „Dinge, die mich im Stadtbild stören: Autos, die Straßen verstopfen, lärmen und die Luft verpesten, überdimensionierte Bürogebäude als reine Geldanlage, die freie Flächen und Sonnenstrahlen verschwinden lassen und Mietpreise erhöhen, Hundescheiße und Müll auf Gehwegen, die eine zwingen, immer auf den Boden zu schauen.“
Anya, 40 Jahre, Berlin: „Seit ein paar Jahren finde ich es immer schwieriger, der Armut auf den Straßen zu begegnen. Ich finde es traurig, dass wir als Gesellschaft keinen Willen haben, etwas dagegen zu tun. Dass es nicht genug Angebote gibt für Menschen, die – meist wegen schwerer Krisen – durch alle Netze fallen, die überall nur als Störung wahrgenommen werden. Am traurigsten macht mich zu sehen, wie einsam die Menschen dadurch werden.“
Anastasia, 24 Jahre, Berlin: „Immer weniger kleine Cafés oder Läden, Müll und dreckige Straßen, Armut und Obdachlosigkeit – das sind für mich Probleme im Stadtbild. Meiner Meinung nach hat das weniger mit Migration zu tun, sondern viel mehr mit falsch gesetzten politischen Prioritäten. In einem reichen Land wie Deutschland gibt es Menschen, vor denen gesamtgesellschaftlich die Augen verschlossen werden. Menschen, die auf der Straße leben, krank oder abhängig sind, zeichnen in deutschen Großstädten das Bild einer Politik, die wegschaut und wo sozial Schwache immer weiter auf der Strecke bleiben.“
Julia, 32 Jahre, Ulm: „Also was mir jetzt mit Kind und mit Kinderwagen krass auffällt, ist die oft fehlende Barrierefreiheit – kaputte oder gar keine Aufzüge, keine Rampen an Treppen und so weiter. Und ich finde, dass oft die Sauberkeit zu wünschen übrig lässt, gerade an Bahnhöfen. Und dass das Sicherheitsgefühl von Frauen im öffentlichen Raum gerade abends und nachts ein anderes als das von Männern ist – unabhängig von Menschen mit Migrationshintergrund darüber müssen wir ja nicht reden.“
Lorin, 17 Jahre, Berlin: „Wenn mich etwas am Stadtbild stört, dann sind es Dreck auf den Straßen und grelle Leuchtanzeigen. Mich stört auch die hohe Obdachlosigkeit an manchen Orten. Ich habe schon sehr junge Menschen gesehen, die auf der Straße leben, das schockiert mich. Was ich auch nicht gut finde, ist die Gewalt, die man manchmal erlebt, wenn man abends unterwegs ist. Dass Merz findet, dass bestimmte Menschen nicht ins Stadtbild passen und man das verändern sollte, das finde ich aber Quatsch. Wenn Jugendliche Fehler machen, muss man darauf eingehen. Aber man kann das nicht verallgemeinern. Es fällt schon auf, dass bestimmte Jungsgruppen abends manchmal lauter sind und mehr Stress machen. Aber da gehören auch Deutsche dazu. Andere liegen dann auf dem Boden, weil sie zu viel getrunken haben. Je älter man wird, desto mehr wird einem bewusst, wie viele Drogen im Umlauf sind. Ich sehe abends auch relativ häufig Gruppen von jungen Frauen, die rumlaufen. Ich geselle mich dann gerne in deren Nähe, weil ich mich dann etwas sicherer fühle.“
Lisa, 33 Jahre, Schwäbisch Gmünd: „Mich stört, dass es keine konsumfreien öffentlich zugänglichen Orte gibt. Keine Begegnungsräume, zu wenig Parkbänke, die bequem sind, zu wenig Beleuchtung an Plätzen, keine Disco, hässliche Brutalismusbauten, zu wenig Nahverkehr im Takt.“
Lia, 14 Jahre, Hamburg: „Mich stört die Ignoranz vieler Menschen in Hinsicht auf Hilfsbereitschaft und das einfacheMiteinander. Mich stört, dasses so viele obdachlose Menschen gibt die Hilfe brauchen und sie nicht bekommen. Dass so viel Müll überall herumliegt, dass viele die Stadt so verdrecken. Und ich finde auch störend, dass es manchmal so anstrengend ist, eine Frau zu sein. Ich meine von Blicken her und so.“
Ida, 11 Jahre, Berlin: „Mich stört, wenn Leute achtlos Müll auf die Straße werfen und wenn der überall rumliegt. Und mich stören Fleischereien, auf denen lachende Tiere abgebildet sind, obwohl die Tiere getötet wurden.“
Aino, 24 Jahre, Berlin: „Mich stören Männer, die glotzen und catcallen, Graffiti, der Müll auf den Straßen, der Geruch von Urin.“
Clara, 22 Jahre, Frankfurt am Main: „Mich stört am Stadtbild, dass ich egal zu welcher Tageszeit Angst haben muss, dass ich von einem Mann angesprochen, angehupt oder angepfiffen werde. Mich stört das Angegaffe von alten deutschen Herren in der Bahn. Mich stört, dass sich Männer immer über Sexismus aufregen, aber selber nichts dafür tun, dass wir Frauen uns sicherer fühlen. Und mich stört auch, dass es so wenige Fahrradwege gibt und Männer in Poserautos, die Lärm machen und die Umwelt verpesten.“
Louisa, 24 Jahre, Mannheim: „Mich stört es, dass es fast keine Grünflächen gibt. Ich würde mir ein paar mehr Parks und wenigstens mehr Bäume wünschen. Und mich stört, dass die Abgase der Fabriken hier so stinken.“
Emmie, 14 Jahre, Bremen: „Das Stadtbild wird am stärksten von diskriminierenden Männern wie Merz gestört. Wenn ich Angst vor Männern habe, dann suche ich mir Frauen, egal, ob sie Migrantinnen sind oder nicht.“
Fine, 26 Jahre, Berlin: „Hier aufwachsen hieß für mich schon immer, auch mit einer Portion extra Zielstrebigkeit durch die Straßen zu laufen. Nachts alleine, nachts gemeinsam, aber auch tagsüber alleine. Das ist Alltag, bloß nicht ratlos stehen bleiben. Erst recht nicht, wenn ich eine Gruppe Männer sehe. Die Herkunft und das Aussehen der Männer: austauschbar. Ich habe an diversen Orten der Welt gelebt, das war überall so. Und nicht erst seit heute. Ja, wir können gerne über das Stadtbild reden, aber dann bitte unter Einbeziehung der Realität. Die einfach anders aussieht, als der Bundeskanzler meint. Lieber Herr Merz: Not all men, but always men. Wer so über die Sicherheit von Töchtern redet, hat nichts verstanden. Verwundern tut es allerdings nicht, diese Debatte wird ja hauptsächlich von Männern geführt.“
Siri, 27 Jahre, Berlin: „Mich stört am Stadtbild Sexismus von Männern jeder Nationalität und die Ignoranz von Politikern wie Merz, es sei denn, man nutzt ihn für seinen eigenen Rassismus. Mich stört am Stadtbild der Rechtsruck, die Ungleichheit und die fehlende Solidarität.“
Paula, 16 Jahre, Berlin: „Wenn auf einem Platz eine Gruppe von Männern steht und man muss da vorbei, dann kann das schon unangenehm sein, auch wenn mir bislang nichts passiert ist. Das Problem ist aber nicht, dass es Migranten sind, sondern dass es Männer sind, egal wo die herkommen.“
Hanna, 25 Jahre: „Am Stadtbild stören mich die toten Geschäfte und die graue Masse an Teer und Beton. Noch nie hat mich eine Person aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes oder ihrer gesprochenen Sprache gestört, denn ich bin keine rassistische Misanthropin.“
Kajsa, 17 Jahre, Berlin: „Von Friedrich Merz zu hören, dass er seine menschenverachtenden Ideologien durchsetzen will, um junge Frauen, Töchter wie mich, zu schützen, fühlt sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Ich will nicht von einem Mann wie Friedrich Merz beschützt werden. Ich will nicht, dass er so tut, als wäre es ihm wichtig, dass ich mich in diesem Land wohl fühle und dass ich in diesem Land die gleichen Rechte habe wie ein Mann. Ja, ich habe Angst, wenn ich nachts allein durch meine Stadt laufe. Aber diese Angst gilt Männern. Und sie bleibt dieselbe, egal ob es deutsche Männer sind oder Männer mit Migrationshintergrund. Wenn er uns jungen Frauen und Töchtern wirklich helfen will, muss er den Frauenhass in unserer Gesellschaft bekämpfen, etwas gegen Gewalt in der Ehe unternehmen, dafür sorgen, dass ich weiterhin frei über meinen Körper bestimmen kann, und sicherstellen, dass Väter Unterhalt zahlen. Ich möchte in einer Stadt leben, die bunt ist und offen anderen Kulturen gegenüber. Denn wer unser Stadtbild wirklich zerstört, sind Faschisten, Nazis und Kapitalisten.“
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