Stadtentwicklung in Delmenhorst: Die vergessenen Mieter

Einst stand die Siedlung Wollepark für Aufbruch und Moderne. Heute gilt sie als sozialer Brennpunkt, nun sollen die MieterInnen raus.

Hochhäuser, die von einem Bagger eingerissen werden

Während in einigen Wohnblöcken unter teils prekären Umständen gewohnt wird, werden andere bereits abgerissen Foto: Paul Toetzke

DELMENHORST taz | Der Schandfleck der Stadt befindet sich mitten im Zentrum. Hinter dem Bahnhof, am Einkaufscenter vorbei, dort, wo Staubwolken über die Straße ziehen, wo es donnert und hämmert. Schaulustige stehen neben einem graffitiverschmierten Kondomautomaten am Bauzaun und gucken zu, wie ein Bagger Fassadenstücke aus einem Wohnblock reist. An manchen Brocken hängen orange- farbene und blaue Tapetenfetzen.

Als die Bagger im April kamen, hatte sich der Oberbürgermeister der Stadt, Axel Jahnz von der SPD, vor sie gestellt und von einem historischen Tag gesprochen. „Endlich kommt der Schandfleck weg!“, sagte Jahnz. Ghetto hatte man die grauen Blöcke stadtweit genannt, Geisterhäuser oder sozialen Brennpunkt. Die Stadt hatte sie ersteigert, um sie abzureißen. Denn hier, im nördlichen Wollepark, einer Plattenbausiedlung aus den Siebzigern, sollte es einen Neuanfang geben.

Stattdessen kam es zu einem Skandal. In den Blöcken elf und zwölf, direkt hinter der Baustelle, drehten die Stadtwerke im April das Wasser und Gas ab, weil Nebenkosten in Höhe von knapp 200.000 Euro nicht beglichen wurden. Die betroffenen Wohnungen gehören verschiedenen privaten Eigentümern. Kamerateams reisten an, um vom Elend vor Ort zu berichten. Dass es so etwas in Deutschland gibt, sagten die Reporter. Man sah Bilder von überquellenden Hydranten, verzweifelten Mietern und dubiosen Verwaltern in Mercedes-Limousinen. Lokalzeitungen berichteten von sklavenähnlichen Beschäftigungsverhältnissen der größtenteils osteuropäischen Mieter, auch Gerüchte über stundenweise vermietete Matratzen und Zwangsprostitution kursierten. Die Polizei sprach von einem „Rückzugsort für Kriminelle“.

Vier Monate später fließen immer noch kein Wasser und Gas in den beiden Wohnblöcken, die Kameras sind abgebaut, und vor einem leer stehenden Kiosk in der Westphalenstraße im nördlichen Wollepark, gleich neben dem Nachbarschaftsbüro, steht Mieterin Elisabeth Moos und sagt: „Hier sind keine schlechten Leute, das ist eine schlechte Umgebung.“

Regelmäßiger Austausch unter den BewohnerInnen

Es riecht nach frisch gemähtem Gras. Die Grünflächen wirken gepflegter als im südlichen Teil, dort, wo sich die Wohnblöcke elf und zwölf befinden. Die Spielplätze sind in besserem Zustand. Im Gemeinschaftsgarten des Nachbarschaftsbüros rupfen zwei Frauen Unkraut aus den Tomatenbeeten, ein älterer Mann mit Stock schläft auf einem Plastikstuhl.

Einmal im Monat können sich die Bewohnerinnen und Bewohner hier über Probleme, Fragen und Wünsche austauschen. Heute sind unter den etwa zehn Mietern Melanie Marczak und ihr Freund René van Ellen. Die 31-jährige Marczak ist im Wollepark aufgewachsen, vor ein paar Wochen, so erzählt sie, hat sie ihren Job als Zahnarztassistentin verloren. Ihrem Arbeitgeber war sie zu lange krankgeschrieben. Dabei ist auch Monika Eller, die 76-Jährige lebt seit 1986 im Wollepark.

Was? Bis zur Bundestagswahl reist taz.meinland durch die Republik. Wir wollen wissen: Wo drückt der Schuh, wie ist die Stimmung im Land? Aktuelle Infos: taz.de/meinland

Wer? In Delmenhorst diskutieren wir u. a. mit BewohnerInnen, mit für den Wollepark verantwortlichen Managerinnen und Bereichsleitern von der Stadt

Wann: am heutigen Donnerstag um 19 Uhr

Wo: Slattery’s Irish Pub, Stedinger Str. 40, 27753 Delmenhorst (taz)

Zwei Quartiersmanagerinnen stellen Filterkaffee und Kekse auf einen Tisch. An einer Pinnwand hängen zwei Zettel. „Was gefällt mir am Wollepark?“, steht auf dem einen und darunter „schön grau“ und „Gegend ist schön“. Auf dem anderen haben die Bewohner notiert, was sie am Wollepark stört. „Kriminelle Vermieter“, „Ausbeutung von Osteuropäern“ und „es ist schwer, Wohnungen zu bekommen“. Schnell kommen die MieterInnen miteinander ins Gespräch:

Melanie Marczak: „Auf der Arbeit sagen sie: 'Wollepark? Das ist ja asozial da.’ Dabei sind die Wohnungen eigentlich schön. Und es ist grün hier.“

René van Ellen: „Die Polizei geht hier gegen vermeintliche Drogendealer vor. Aber in meinen Augen sind das ganz normale Menschen.“

Monika Eller: „Ich bin vor 31 Jahren hierhergezogen. Da war es so schön. Heute ist es anders. Seit die Flüchtlinge hier sind, ist es schwierig. Das sieht man schon an dem ganzen Müll.“

René van Ellen: „In manchen Wohnungen sind 15 bis 20 Personen. Die Sprache ist das größte Problem.

Früher war die Textilindustrie der wichtigste Arbeitgeber

Früher einmal stand der Wollepark für Aufbruch und Moderne. Vier- bis fünfzehngeschossige Blöcke, darin 1.300 Wohnungen, „Urbanität durch Dichte“ nannten das die Stadtentwickler. Die heutigen Straßennamen, Zwirnerei, Kämmerei oder Färberei, zeugen von einer vergessenen Zeit, in der die Textilindustrie der wichtigste Arbeitgeber war. Etwa 4.000 Menschen arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts in den Fabriken. Schon damals wurden Arbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern angeheuert. Die jungen Frauen aus dem heutigen Polen und Tschechien, die hier für 1,50 Mark Tageslohn arbeiteten, wurden von den Delmenhorstern „Wollmäuse“ genannt. In den frühen 80ern schlossen die Fabriken, der Wollepark und die Menschen blieben.

Wann der Wollepark genau zum „sozialen Brennpunkt“, zum „Problemviertel“ wurde, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich gegen Ende der 90er. Deshalb wurde er ins Städtebauförderprogramm „Sozia­le Stadt“ aufgenommen. 2012 standen so viele Wohnungen leer, dass es kurz so aussah, als würde die Stadt den Wollepark zumachen. Inzwischen gibt es Wartelisten für die Wohnungen, viele Migranten wollen hierherziehen.

In einem Protokoll des Bewohnerrats von 2014 steht: Die Zuwanderung aus Osteuropa ist die „größte Herausforderung“. Es fehlt an sozialer Infrastruktur für die knapp 3.000 BewohnerInnen.

Zu ihnen gehört auch Daniel Kowalski. Am Abend erhellt Blaulicht die Wohnblöcke vor der Baustelle. Ein Streifenwagen hält vor dem elften Block. Beamte kontrollieren ein paar stämmige Männer auf ihren Quads. Aus einem Pkw dröhnen Balkanklänge. Daniel Kowalski begrüßt die Männer, seine Mutter Anna kommt dazu.

Mieter schämen sich für ihr Viertel

Daniel Kowalski ist 14 Jahre alt und im Wollepark als erfolgreicher Nachwuchsboxer bekannt. 2014 kam die Roma-Familie aus Polen nach Deutschland. Letztes Jahr haben sie eine Wohnung im Wollepark bekommen. Block zwölf, oberster Stock, vier Zimmer. Nicht gerade groß für ihn, seine vier Geschwister und die Eltern. Aber eigentlich waren sie zufrieden. Bis im April Wasser und Gas abgestellt wurden.

Daniel Kowalski: „Ich schäme mich zu sagen, dass ich im Wollepark wohne. In der Schule sage ich immer, ich wohne in der Bremer Straße.“

Anna Kowalska: „Wo sollen die Kinder duschen, wo aufs Klo gehen?“

Daniel Kowalski: „Irgendwann kamen die Stadtwerke und haben gesagt, wir verbrauchen zu viel Wasser. Dabei bezahlen wir jeden Monat.“

Anna Kowalska: „Die Verwalter haben die Miete jeden Monat in Cash abgeholt.“

Daniel Kowalski: „Beim ersten Mal haben sie gesagt, nächste Woche würde ein Bruder kommen. Dann kam jede Woche ein neuer Bruder. Jetzt haben sie den Mietvertrag gekündigt. Wir wissen nicht, was mit uns passiert.“

Eine Sanierung der Gebäude scheint nicht mehr möglich

Das bestätigen auch andere Mieter der Wohnblöcke elf und zwölf. Sie beteuern, die Nebenkosten bezahlt zu haben. Der Oberbürgermeister vermutet, dass die Hausverwaltung das Geld einbehalten hat. Deswegen habe die Stadt die Stadtwerke angewiesen, Wasser und Gas abzustellen – bis die Schulden bezahlt sind. Momentan klagen einige Eigentümer gegen die Stadt Delmenhorst. Der Vorwurf: Die Stadt sorge absichtlich für die schlechten Bedingungen, um die Wohnungen billig ersteigern und abreißen zu können. An diesen Vorwürfen sei nichts dran, erklärt der Pressesprecher der Stadt. Klar sei aber, dass die Gebäude irgendwann abgerissen werden müssten. Eine Sanierung scheint nicht mehr möglich, bald werden die Wohnungen wohl für unbewohnbar erklärt werden. Aber die Menschen leben noch immer dort.

Anna Kowalska: „Einer meiner Söhne ist letzten Monat gestorben.“

Daniel Kowalski: „Er hatte so eine Entzündung im Ohr.“

Anna Kowalska: „Einmal wurde er zu Hause ohnmächtig. Da habe ich den Krankenwagen gerufen. Aber die haben gesagt, wegen so etwas würden sie nicht kommen. Wir sollten uns ein Taxi rufen.“

Daniel Kowalski: „Im Krankenhaus musste wir fünf Stunden warten, bis er an der Reihe war. Die haben ihm nur ein paar Schmerztabletten gegeben. Die Krankenschwester hat gesagt, wir sollten uns nicht so anstellen, das sei nur eine Erkältung. Dabei hat man gesehen, dass er völlig weggetreten war. Er hat gezittert. Die Ärzte wussten überhaupt nicht, was sie tun sollten. Dann war er hirntot. Die Ärzte haben ihn ins künstliche Koma versetzt und nach Bremen in die Klinik gebracht. Das war am 17. Juni. Am 25. war er tot.“

Anna Kowalska: „Der Chefarzt hat gesagt, ihm hätten vier Stunden gefehlt.“

Daniel Kowalski: Eine Woche, und dann war er einfach weg. Ich bin seitdem völlig durch. Ich glaube, ich werde langsam zum Psycho. Wirklich. Ich habe einen Brief an die Stadt geschrieben und gefragt, ob sie die Beerdigung bezahlen können. Aber wir haben noch keine Antwort.

Aus einem Fenster ertönt eine polnische Männerstimme. Daniel Kowalski sagt, er müsse jetzt gehen. Morgen müsse er sich wieder um seine Geschwister kümmern, anstatt in die Schule zu gehen. Er ist jetzt der Älteste von ihnen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.