Stadtgespräch aus Diyarbakır: Im Vakuum zwischen Stillstand und Ausbruch
„Hausjugendliche“ werde in der Türkei junge Erwachsene genannt, die weder studieren noch arbeiten. Perspektiven gibt es für sie kaum.

E in kleiner Stand am Straßenrand in Diyarbakır im Südosten Anatoliens. Über der Auslage hängen Plüschtiere und Schlüsselanhänger. Dazwischen lehnen wie selbstverständlich Gewehre. Ein rotes Schild preist ein Sonderangebot an: 30 Schuss für 60 Lira. So alltäglich geschrieben, als sei es total normal.
Offiziell, sagt man, sei das alles reguliert. Waffen bekommt nur, wer eine Genehmigung vorweisen kann, wer seine Personalien angibt, wer ins bürokratische Raster passt. Doch am Stand beugt sich der Verkäufer leicht vor und erklärt leise: Wer mehr bezahlt, bekomme eine schnellere Lösung – eine Waffe ohne Fragen.
Noch am selben Abend hört man Schüsse in einer Seitenstraße von Diyarbakır. Ein junger Mann wurde in den Kopf geschossen. Seine Mutter sitzt auf dem Asphalt und schreit durch die Gassen. Blaulicht zuckt, die roten Reklamelichter der Geschäfte flackern. Die Anwohner treten auf die Straßen, als sei das ein bekanntes Ritual. Denn neu ist das alles wirklich nicht. „Jede Woche stirbt jemand“, sagt einer der Nachbarn. Jede Woche Schüsse, Verletzte, Tote. „Letzte Woche waren es drei Tote“, sagt er kopfschüttelnd. „Was soll nur aus der Jugend werden?“
Doch die Ursachen liegen nicht allein in den Waffen und Diyarbakır ist auch längst nicht der einzige betroffene Ort. Die Ursachen liegen tiefer – in einer Gesellschaft, die eine Generation außen vor lässt. In den türkischen Nachrichten werden sie „Ev gençleri“ genannt, die „Hausjugendlichen“: junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren, die weder studieren noch arbeiten. Fünf Millionen soll es im ganzen Land geben. Eine perspektivlose Generation.
Die ökonomische Realität zerstört Pläne. Arbeit bringt kaum genug Geld zum Überleben, während die Preise für Lebensmittel, Mieten und Energie weiter steigen. Studieren? Für viele unerschwinglich. Und selbst wer es schafft, verliert zunehmend das Vertrauen in den Wert eines Abschlusses. Spätestens seit der Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters und der Aberkennung seines Hochschulabschlusses gilt Bildung für viele als politisch manipulierbar. „Ob ich jetzt studiere oder mir einfach ein Diplom kaufe, kommt aufs Gleiche raus“, sagt ein Mann Anfang 20. In einem Klima, in dem selbst Bildung ihre Verlässlichkeit verliert, sinkt die Motivation, überhaupt noch in sie zu investieren.
So entsteht ein Vakuum. Eine Jugend ohne Beschäftigung, ohne Anerkennung, ohne Platz in der Gesellschaft. Manche verbringen ihre Tage in Cafés oder Spielhallen, andere einfach auf der Straße. Für viele bleibt nur der Rückzug ins eigene Zimmer, die Flucht in digitale Welten. Andere suchen Halt in Cliquen, aus denen Banden werden. Aus Langeweile wird Geschäft, aus Geschäft wird Gewalt. Die „Hausjugendlichen“ sind kein Rand-, sondern ein Massenphänomen.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Doch auch innerhalb dieser Generation gibt es Unterschiede. Einer erzählt, er wolle Lehrer werden. Er studiere trotz aller Schwierigkeiten, halte sich fern von den falschen Kreisen. Er klingt stolz, aber auch, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass es sich lohnt. Seine Hoffnung steht auf schwankendem Boden, wie so vieles in einem Land, in dem das Morgen ständig infrage steht.
Die Waffen im Schaufenster sind zum Sinnbild eines Landes geworden. Sie zeigen nicht nur, wie leicht Gewalt verfügbar ist, sondern auch, wie schwer es geworden ist, an etwas anderes zu glauben. Wo Arbeit nicht trägt und Bildung kaum erreichbar ist, entstehen Räume, in denen Waffen und schnelle Deals mehr Anziehungskraft haben als jede Zukunftsplanung.
Diyarbakır zeigt in verdichteter Form, wie es in vielen Städten der Türkei aussieht: eine Jugend zwischen Stillstand und Ausbruch, zwischen Wohnungslosigkeit und Straßenpräsenz, zwischen Hoffnung und Gewalt. Solange Millionen junger Menschen in dieser Warteschleife verharren, wird das Muster bleiben – nicht nur hier, sondern landesweit.
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