Stall als Nabel der Welt: Der Hahn im Netz

Urlaub auf dem Bauernhof ist ein touristisches Erfolgsmodell. Die Südtiroler Bergbauern, einst als Hinterwäldler belächelt, liegen heute mitten im globalen Dorf. Eine Hofberichterstattung

Bauernhof von St. Christina in Gröden vor Langkofelgruppe Bild: Südtirol Marketing/Tappeiner

Schlag zwölf legt sich ein gewaltiger Schatten über den Pristingerhof, kalt und plötzlich wie ein Fluch. Eine Wolke? Doch der Südtiroler Himmel erstrahlt in blankem Blau. Eine Sonnenfinsternis? Davon ist nichts bekannt. Es schien doch den ganzen Vormittag lang die Sonne über dem Hof, der in bester Südlage unterhalb der Seiser Alm aufragt. Nach zwanzig Minuten kehrt das Licht dann wieder. Der Sandner wars. Die äußerste Spitze des Schlernmassivs, ein sagenumwobener Zacken, der wie der Fangzahn eines Sauriers aus dem Felsstock ragt. Während der kürzesten Tage des Jahres signalisiert er wie der Zeiger einer Sonnenuhr, dass hoher Mittag ist und tiefer Winter. Zu dieser Zeit finden sich zahlreiche Gäste bei Familie Planer ein. Sie machen Winterurlaub auf dem Bauernhof. Genauer: auf dem Biobauernhof.

Selbst für Südtiroler Verhältnisse ist Rudolf Planers Hof ein kleiner Hof, es steht nicht viel mehr Vieh in seinem Stall als in dem von Bethlehem. Bauer Rudolf sichert als Altenpfleger das Grundeinkommen, Bäuerin Josefine betreut zusätzlich die Urlaubsgäste. Die Planers sind einfache Leute, etwas scheu. In ihrer Lebensgestaltung von einer Behutsamkeit, die zwischen Sorgfalt und Besorgnis liegt und die sie mit ihrer Klientel verbindet. Denn wer ausdrücklich auf einem Biohof Urlaub machen will, hat ein skeptisches Verhältnis zur Umwelt.

Im Pristingerhof bewahrt ein Netzfreischalter die Bewohner des Nachts vor elektromagnetischen Strahlen. Massivholzmöbel und unlackierte Dielenböden stellen sicher, dass keine Schadstoffe entweichen, selbst dann nicht, wenn sie eines fernen Tages entsorgt werden sollten, als Brennmaterial für die Warmwasserheizung nämlich. Der Müll wird gewissenhaft getrennt. Und natürlich stammen alle hofeigenen Erzeugnisse, ob Marmeladen, Eier oder Frischkäse, aus biologischer Produktion. Für die Gäste, für die Kinder vor allem, bildet der Stall den Nabel der Welt. Die Eltern müssen sie manchmal regelrecht loseisen, um den Winterfreuden frönen zu können. Meist auf der nahen Seiser Alm, der größten Spielwiese Südtirols.

Der am 23. Januar anstehende "Moonlight Marathon", ein zünftiges Langlaufrennen über die legendären 42,195 Kilometer, gibt eine Vorstellung von den Ausmaßen dieser Megaalm. Die Loipe kreuzt Skipisten, Rodelbahnen, Schneeschuh- und Pferdeschlittenrouten. Wenn trotz aller Angebote Langeweile aufzukommen droht, lädt die Bäuerin zum Bastelnachmittag. Mit organischen Materialien vom Hof, versteht sich. Da sitzen dann Alte und Junge beisammen und fertigen Filzfiguren oder dralle Strohtiere. Wie etwa den kapitalen Gockel an der Hofeinfahrt, das unübersehbare Symbol des "Roten Hahns".

Unter diesem Zeichen hat sich die Mehrzahl der über 2.000 landwirtschaftlichen Betriebe Südtirols zusammengeschlossen, die Urlaub auf dem Bauernhof anbieten. Eine "Dachmarke" heißt das im Marketingdeutsch, eine Organisationsstruktur, die Reichweite, Orientierung und Identität verheißt. In diesem Fall mit bemerkenswertem Erfolg. Seit die Vereinigung vor acht Jahren ins Leben gerufen wurde, hat sich die Zahl der Nächtigungen verdoppelt. Dabei ist ihr Herzstück eine rein virtuelle Angelegenheit - die gemeinsame Website. Josefine Planer: "Neun von zehn Gästen finden über das Internet zu uns. Entweder kommen sie über die Homepage des Roten Hahns, oder sie geben in die Suchmaschinen ,Biobauer' und ,Südtirol' ein und landen ziemlich schnell bei uns."

Selbst die entlegensten Höfe, die noch vor dreißig Jahren nur zu Fuß erreichbar waren und lediglich über kaltes Wasser im Brunnentrog verfügten, haben heute ganz selbstverständlich Mobiltelefon und Internetanschluss, oft auch eine eigene Homepage in drei oder vier Sprachen. Die Südtiroler Bergbauern, vielfach als heroische Hinterwäldler angesehen, sind zu Vorreitern virtueller Präsenz geworden. Ihre Höfe liegen mitten im globalen Dorf. Damit sie sich selbst nicht zu sehr Konkurrenz machen, haben viele sich spezialisiert. Es gibt Wander-, Wellness- und Reiterhöfe, explizit familienfreundliche Betriebe und historische Bauernhöfe. Einige Gehöfte in flachen Talgründen haben sich auf behinderte Gäste eingestellt, ihre Pendants in den höchsten Lagen auf Allergiker, da dort kaum Pollenflug auftritt.

"Tirtl", ein Stück Südtiroler Küche Bild: Südtirol Marketing/Helmuth Rier

Die Aufnahmebedingungen sind erstaunlich streng. So müssen alle Mitglieder des Roten Hahns umfangreiche Hofmappen anlegen, die den Besuchern erzählen, wo und bei wem sie zu Gast sind. Sie müssen über eine gut sortierte Bibliothek verfügen und überwiegend hofeigene Produkte anbieten. Die Unterkünfte werden jährlich kontrolliert. Besonders streng sind die Auflagen für Hof- und Buschenschankbetriebe, die der Tafelrunde der "bäuerlichen Feinschmecker" angehören wollen. Die Durchfallquote liegt bei siebzig Prozent.

Edith Marsoner aber vom Schiffereggerhof in Sankt Sigmund hat diese Hürde mit Leichtigkeit genommen. Wenn sie nicht hoch über dem Pustertal Haus und Hof hätte, dazu Mann und Kinder und pflegebedürftige Schwiegereltern, sie wäre wohl längst eine gefeierte Spitzenköchin geworden. Alles, was die leutselige Bäuerin in die Hand nimmt - und das sind vorwiegend eigene Erzeugnisse, vom Kitzfleisch bis zum Himbeersaft -, gerät zu einer gastronomischen Offenbarung. Der intimen Philosophie des Roten Hahns folgend, tischt sie Südtiroler Küche für Eingeweihte auf, "Tirtln" etwa, "Erdäpfelblattlen" und "schwarzplentene Riebl".

Besonders für Urlauber aus der Stadt bildet so ein Bauernhof ein schier therapeutisches Kontrastprogramm. Zu Familie Jocher vom Frötscherhof etwa kommen Stammgäste vom Niederrhein schon seit über zwanzig Jahren. Der Herr Ingenieur kennt kaum ein größeres Vergnügen, als allabendlich den Kuhstall auszumisten.

Je älter die Höfe, desto spektakulärer die Lage. Die mittelalterlichen Pioniere besiedelten die besten, sonnigsten Hänge zuerst. Der Frötscherhof, ein wuchtiger Ansitz mit Schießscharten im dicken Mauerwerk, stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde kürzlich fürs 21. fit gemacht. Mit Hackschnitzelheizung und Solarzellen, baubiologischer Einrichtung und sechs verschiedenen Mülltonnen.

Und wenn die Gäste dann zu Hause den mitgebrachten Speck oder den Graukäse anschneiden oder den Maulbeersaft ausschenken oder den Blauburgunder verkosten - dann huldigen sie den wahren Werten Südtirols.

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