Stardirigent Christoph Eschenbach: Bis an die Grenzen des Lebens

Als Waisenkind wäre Eschenbach 1945 fast an Typhus gestorben. Er überlebt mit Hilfe der Musik. Die frühe Begegnung mit dem Tod hat ihn nie losgelassen.

Christoph Eschenbach bei der Arbeit. Bild: Margot Schulman/National Symphonie Orchestra/dpa

WASHINGTON taz | „Musik hat viele Farben“, sagt Christoph Eschenbach. Er selbst trägt Schwarz. Mönchisch wirkt der zierliche Mann mit dem kahl rasierten Kopf in dem hochgeschlossenen Stehbund. Im einen Moment wirkt er, als könnte er zerbrechen. Im nächsten ist er ein Zauberer, der alle in seiner Gewalt hat, Musiker wie Publikum.

Das hört der Mann, dem die Nazis die Kindheit zur Hölle machten, nicht gern. „Macht ist mir fremd“, betont Eschenbach, der dem National Symphony Orchestra in Washington stets ein ausverkauftes Haus beschert. Als mittelmäßig galt es, bevor er kam. „Unter Eschenbach“, jubeln US-Kritiker, „wirkt das Orchester endlich, als habe es Spaß.“

„Man muss eine natürliche Autorität haben, um dem Orchester seine Vision zu vermitteln und sie dann auch durchzusetzen“, erklärt Eschenbach. „Es ist nicht ein Sich-über-das-Orchester-Erheben. Das möchte ich um Gottes willen nicht, denn ich will ja die Musiker zu mir ziehen und am Abend dem Publikum eine gültige Lesung eines Stückes schenken. Das kann man nur, wenn man zusammen ist.“ Fast vorsichtig ist seine Stimme. Klug und aufmerksam blicken die großen braunen Augen. Laute Töne hören die Musiker von ihm nicht.

Scharf und schelmisch

Still ist es, als die letzte große Probe vor der Europatournee beginnt. Im Halbdunkel des Konzertsaals rascheln nur noch ein paar Notenblätter. Die Geige stimmt an. Eschenbach kommt auf leisen Sohlen. „Good morning!“ – und schon ist er mitten in Brahms’ Zweiter Symphonie. Der bald 73-Jährige bewegt sich geschmeidig und voll Energie. Die Züge werden scharf. Dann wieder blickt er wie ein Schelm, der es mit Freude krachen lässt.

Eschenbach unterbricht das Spiel nicht, um zu korrigieren. Er speichert ab. Erst als der Satz gespielt ist, feilt er. Hier fehlte die Spannung der Pauke. Da war ein Pianissimo nicht leise genug. Dort hatte eine Violine nicht die nötige kindliche Erregung. „Noch mal.“

Seit September 2010 ist der deutsche Pianist und Dirigent Christoph Eschenbach, 1940 in Breslau geboren, künstlerischer Leiter des National Symphony Orchestra in Washington. Nun bringt er mit den amerikanischen Musikern Beethoven, Bartók, Mozart und Brahms zurück nach Europa. Die Deutschlandtournee mit der Violinistin Arabella Steinbacher startet am 4. Februar in der Düsseldorfer Tonhalle, weitere Stationen sind Hamburg (6. 2.), Nürnberg (7. 2.) und Frankfurt am Main (9. 2.).

„Ich bin ein gnadenloser Perfektionist“, gesteht Eschenbach. „Neugier“ sei für ihn das Wichtigste, „Routine dagegen mein absolutes No-Word!“ Davor schützt ihn schon, dass er einen Zweitwohnsitz in Paris hat und eine Künstlerresidenz an der Essener Philharmonie. Heimat hänge für ihn nicht an einem Ort. „Meine Heimat ist in mir. Meine Heimat trage ich in alle Welt. Meine Heimat ist mein Innen, mein Zentrum, und da fühle ich mich auch sehr wohl.“

Vielleicht liegt das daran, dass ihm seine erste Heimat geraubt wurde, als er zum ersten Mal die Augen öffnete. „Meine Mutter starb bei meiner Geburt.“ Das war im Februar 1940 in Breslau. Es traumatisiert ihn bis heute. „Wenn man seine Mutter nie gekannt hat, wenn man ohne seine Mutter aufgewachsen ist, dann ist dieses Phänomen unbewusst immer da. Sogar ein gewisses Schuldgefühl, das Schuldgefühl, zu leben.“ Während Eschenbach das sagt, macht er Pausen. Auch nach fast 73 Jahren fällt es ihm nicht leicht, über diesen Verlust zu sprechen. „Das ist ein sehr merkwürdiges Gefühl, das eine gewisse Zwiespältigkeit gegenüber der Lebensfähigkeit erzeugt, aber dann die Lebensaufgabe, nämlich die Musik, immer stärker macht.“

Ein Kind ohne Sprache

Kurz darauf verliert er auch noch den Vater. Der Musikwissenschaftler wird als Hitlergegner von der Universität Breslau verbannt. Er kommt in einem Strafbataillon der Wehrmacht um. „Ich wuchs bei meiner Großmutter auf, ging mit ihr am 23. Januar 1945 auf die Flucht, über ein Jahr lang.“ Dann verliert er auch sie. Typhus rafft einen nach dem andern im Flüchtlingslager dahin. Auch den Arzt. Der Fünfjährige ist der letzte Überlebende. Doch auch er ist dem Tode nah. „Wenn man einmal an dieser Grenze war, verliert man dieses sehr merkwürdige Gefühl des Beinahehinübergleitens in eine andere Sphäre nicht mehr. Und auch nicht das Immer-wieder-Erfahren dieses Grenzwerts in einem Medium wie Musik.“

Der Junge wird gerettet. Vor dem Tod hat Eschenbachs Großmutter noch eine Nachricht an die Cousine seiner Mutter geschickt. Sechs Wochen braucht die Karte. Als die Cousine eintrifft, ist der Kleine stumm. Der Schock hat ihm die Sprache geraubt. Die Frau, Klavierlehrerin, die Schumann und Beethoven spielt, adoptiert den Jungen. Und fragt ihn, ob er nicht auch das Klavierspiel lernen will. Da spricht er endlich wieder und sagt: „Ja.“

Der Rest ist Geschichte: Schon der Zehnjähriger gewinnt erste Klavierwettbewerbe, studiert Musik in Köln und füllt Konzertsäle. Irgendwann genügt ihm das Piano nicht mehr. „Mir fehlten die anderen Instrumente, die ich teils dank meiner Adoptivmutter spielen konnte.“ Eschenbach braucht ein ganzes Orchester. Er will Farben. Will dirigieren. Und lernt es. Dirigenten wie Herbert von Karajan und George Szell fördern ihn. Im April 1972 debütiert er in Hamburg als Dirigent mit Bruckners Dritter Symphonie.

Kurz darauf ist er Generalmusikdirektor der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz in Ludwigshafen. Eschenbach wird Chefdirigent des Tonhalle-Orchesters in Zürich, leitet das NDR-Sinfonieorchester und das Orchestre de Paris. Er wird künstlerischer Leiter des Schleswig-Holstein Musik Festivals und hat Gastaufträge in aller Welt. Die frühe Begegnung mit dem Tod, gesteht er, ist seine Triebfeder. Die Musik eine Ausdrucksform, der Mutter das zurückzugeben, was sie verlor.

Suche nach der Grenzwertigkeit

„Tod ist der Grenzwert des Lebens“, sagt Eschenbach. „Ich sehe ihn als Wert. Ich kann den Tod nicht beschreiben. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man tot ist. Aber an der Grenze war ich.“ Aus seiner Geschichte erklärt er sich seine „unermüdliche Suche nach der Grenzwertigkeit von Musik.“

Das mögen die Kritiker oft weniger, weiß Eschenbach: „Der kann kein Tempo halten, heißt es dann … Will ich ja nicht. Der macht Mikromanagement … Will ich ja. Der macht ein Pianissimo, das man kaum hört … Will ich ja.“

Von einem Exzentriker sprechen viele. Doch der Mann, der sich nach der Probe mit Strickjacke in den Sessel in seinem durch die Klimaanlage unterkühlten Büro fallen lässt, wirkt alles andere als das. Eschenbach ist präsent. Es gibt für ihn in diesem Moment nur diese eine Situation. Keine Ablenkung. Kein Blick auf die Uhr. Auch der jede Minuten erklingende Science-Fiction-Ton seines Handys lenkt ihn nicht ab. Jetzt ist er hier. Er lacht auch gern. Etwa über die Frage, warum er denn stets schwarze Hemden trage. „Das ist einfach praktisch und hat keinen tieferen Sinn“, scherzt er. „Natürlich trage ich privat auch anderes, Weiß zum Beispiel.“

Das Orchester als Familie

Weiß und karg sind auch die Wände seines Büros im Haus des Orchesters, dem John F. Kennedy Center for the Performing Arts, dessen musikalischer Direktor er zugleich ist. Washington ist nicht seine erste Station in den USA. Zuletzt war er in Philadelphia, zuvor in Houston. Dort übernahm er ein abgebranntes Haus. „Was ich lernen musste, war das Fundraising“, sagt er. „Nämlich dass jedes amerikanische Kulturhaus zu 98 Prozent privat finanziert ist.“ Das habe ihm Spaß gemacht, „weil es dem Orchester Auftrieb gibt. Und das Orchester ist meine Familie.“

Am Abend hat er sie dann wieder um sich geschart. Im tosenden Applaus verneigt er sich. Eschenbach schüttelt am Ausgang noch ein paar Hände, dann sucht er Stille. „Nach den Konzerten brauche ich ein paar Stunden, um mich von einer Hochspannung in eine Normallage zu bringen“, verrät er. „Ich bin allein, und eigentlich gibt es zwei Dinge, die ich dann tue – entweder ich lese die Partitur noch mal, die wir gerade gespielt haben, oder ich lese ein Buch.“

Bis zur völligen Isolation gehe sein Bedürfnis nach dem Alleinsein allerdings nicht. „Das Leben ist zu reich, als dass ich eine einsame Insel suche und mir da eine Schallplatte mitnehme. Das würde ich nicht tun.“

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